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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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wegungcn und Wandlungen gleichermaßen bedenklich ist, als diejenige des
politischen und socialen Rußland, Jede andere findet ihre Begrenzung und
ihren Regulator in einer bestimmten allgemeinen Jnteressenverwandtschaft. in
einer gewissen europäischen Solidarität. Nußland steht dagegen in keiner Be¬
ziehung auf dem Boden gleicher Voraussetzungen, gleicher Tendenzen und gleicher
Ziele mit dem übrigen Europa. Begrüßen wir nun jede formelle Annähe¬
rung des russischen Lebens an das europäische mit rückhaltloser Hingebung
als eine innere Verähnlichung mit uns, so gestehen wir Rußland von vorn¬
herein Ansprüche zu, von denen es mindestens äußerst fraglich ist. ob ihre
Voraussetzungen und ihre Consequenzen der selbstständigen Entwicklung Euro¬
pas nicht höchst gefahrdrohend werden. Man braucht sich blos der rein diplo¬
matischen Analogien zu erinnern. Worin liegt die Ursache, daß Rußland bei
allen europäischen Actionen aus den diplomatischen Feststellungen die aller¬
größten Vortheile zieht? Zum großen Theil darin, daß es aus seiner excep¬
tionellen Stellung heraus mit verhandelt, als beruhten seine Interessen auf
den allgemeineuropäischen Grundlagen; daß es während des VerHandelns
die Besonderheit seiner Stellung ableugnet, grade um nach Feststellung der
Stipulationen dieselben für jene Besonderheit nutzbar zu machen und Europas
allgemeines Interesse ihr unterzuordnen. Diese Ansprüche und Uebergriffe ab¬
zuweisen, bedarf es dann neuer, und zwar gesammteuropäischer Kämpfe. Aber
seit Rußlands Hereindrängung in das europäische System ist der orientalische
Krieg das einzige Beispiel, daß wirklich eine solche allgemeineuropäische Defensiv¬
allianz zu Stande gebracht werden kann. Und hat sie wirklich ihre höheren
culturhistorischen Aufgaben erledigt?

Einer Antwort darauf bedarf es nicht, jedermann gibt sie sich selbst. Ans
sich selbst zurückdrängen wollte man Rußland; und c-s tritt bereits wieder be

alte anspruchsvoller in das europäische System herein, als vordem, wenn auch
mit freundlicheren Mienen. Fast wie eine Errungenschaft des europäischen
Lebens feiert und verherrlicht man es. daß das Petersburger System den
Weg der innern Reformen betreten hat. und die ersten Schritte des Wollens
werden uns von der russischen Presse vordemonstrirt, als wären es höchste,
glänzendste Resultate des Könnens. Die kosmopolitische Humanität Euro¬
pas behandelt das, was jetzt in Nußland geschieht, als wäre eine formelle
Berähnlichung der Zustände mit denen des übrigen Europa ganz ohne Frage
der natürliche und organische Gang russischer Entwicklungen, während doch
jedenfalls das nationale Russenthum auch ein vollstes Recht der Berücksichtigung
in Anspruch zu nehmen hat. Ja, nirgend ist vielleicht das kosmopolitische
Humanitätsprincip weniger berechtigt, seine europäischen Maßstäbe anzu¬
legen, als grade hier. Freilich kann man es auch vom nationalrussischen
Standpunkte aus freudig begrüßen, wenn mit Nikolaus i. das asiatische Zaren-


wegungcn und Wandlungen gleichermaßen bedenklich ist, als diejenige des
politischen und socialen Rußland, Jede andere findet ihre Begrenzung und
ihren Regulator in einer bestimmten allgemeinen Jnteressenverwandtschaft. in
einer gewissen europäischen Solidarität. Nußland steht dagegen in keiner Be¬
ziehung auf dem Boden gleicher Voraussetzungen, gleicher Tendenzen und gleicher
Ziele mit dem übrigen Europa. Begrüßen wir nun jede formelle Annähe¬
rung des russischen Lebens an das europäische mit rückhaltloser Hingebung
als eine innere Verähnlichung mit uns, so gestehen wir Rußland von vorn¬
herein Ansprüche zu, von denen es mindestens äußerst fraglich ist. ob ihre
Voraussetzungen und ihre Consequenzen der selbstständigen Entwicklung Euro¬
pas nicht höchst gefahrdrohend werden. Man braucht sich blos der rein diplo¬
matischen Analogien zu erinnern. Worin liegt die Ursache, daß Rußland bei
allen europäischen Actionen aus den diplomatischen Feststellungen die aller¬
größten Vortheile zieht? Zum großen Theil darin, daß es aus seiner excep¬
tionellen Stellung heraus mit verhandelt, als beruhten seine Interessen auf
den allgemeineuropäischen Grundlagen; daß es während des VerHandelns
die Besonderheit seiner Stellung ableugnet, grade um nach Feststellung der
Stipulationen dieselben für jene Besonderheit nutzbar zu machen und Europas
allgemeines Interesse ihr unterzuordnen. Diese Ansprüche und Uebergriffe ab¬
zuweisen, bedarf es dann neuer, und zwar gesammteuropäischer Kämpfe. Aber
seit Rußlands Hereindrängung in das europäische System ist der orientalische
Krieg das einzige Beispiel, daß wirklich eine solche allgemeineuropäische Defensiv¬
allianz zu Stande gebracht werden kann. Und hat sie wirklich ihre höheren
culturhistorischen Aufgaben erledigt?

Einer Antwort darauf bedarf es nicht, jedermann gibt sie sich selbst. Ans
sich selbst zurückdrängen wollte man Rußland; und c-s tritt bereits wieder be

alte anspruchsvoller in das europäische System herein, als vordem, wenn auch
mit freundlicheren Mienen. Fast wie eine Errungenschaft des europäischen
Lebens feiert und verherrlicht man es. daß das Petersburger System den
Weg der innern Reformen betreten hat. und die ersten Schritte des Wollens
werden uns von der russischen Presse vordemonstrirt, als wären es höchste,
glänzendste Resultate des Könnens. Die kosmopolitische Humanität Euro¬
pas behandelt das, was jetzt in Nußland geschieht, als wäre eine formelle
Berähnlichung der Zustände mit denen des übrigen Europa ganz ohne Frage
der natürliche und organische Gang russischer Entwicklungen, während doch
jedenfalls das nationale Russenthum auch ein vollstes Recht der Berücksichtigung
in Anspruch zu nehmen hat. Ja, nirgend ist vielleicht das kosmopolitische
Humanitätsprincip weniger berechtigt, seine europäischen Maßstäbe anzu¬
legen, als grade hier. Freilich kann man es auch vom nationalrussischen
Standpunkte aus freudig begrüßen, wenn mit Nikolaus i. das asiatische Zaren-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/11>, abgerufen am 17.06.2024.