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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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gnostikon damals auftauchender Entwürfe, von denen jedenfalls der Kirch-
mcmnsche in der preußischen Nationalversammlung und der Lauesche in der
Paulskirche die bedeutendsten und die Ansichten der Zeit am meisten bezeich¬
nenden waren, durfte lange nicht so günstig gestellt werden.

Daß man unter diesen Umständen nach einem fremden Vorbild griff, da
zu einer selbstständigen Schöpfung Erfahrung, Zeit und Muth fehlten, war
also natürlich. Merkwürdig aber bleibt es immerhin, daß dieses Vorbild
nicht bei einem Volk gesucht wurde, das uns in jeder Hinsicht so viel gleich¬
artiger und verwandter ist als das französische und die Einrichtung, um welche
es sich hier handelt, seit sechshundert Jahren von einem Keime aus entwickelt
hat, der auch in unserm Vaterlande einst vorhanden gewesen, aber bald durch
die Ungunst der Zeiten und fremde, kräftigere Elemente erstickt worden war.
Die deutsche Gerichtsverfassung unter Karl d. Gr. ähnelt der englischen unter
den letzten sächsischen, noch mehr aber der unter den ersten normännischen
Königen auf ein Haar. ' Das Reich ist in Grafschaften und Hundertschaften
getheilt, königliche Beamte ernennen die Schöffen und Präsidiren dem Gerichts¬
verfahren; reisende königliche Commissarien, an der Centralstelle das Pfalz¬
gericht -- in England Limeum regis, Kings dvncli -- finden sich hier wie
dort. Zur Aufrechthaltung des Friedens und der Verfolgung von Verbrechern
werden in beiden Ländern von den engern oder weitern Gemeindevcrbändcn
Männer gewühlt, die verpflichtet sind, jedes ihnen zu Ohren kommende Verbrechen
zu rügen und den Thäter zur Verantwortung zu ziehen. Unter Ludwig dem From¬
men gibt es in Deutschland bereits vor den reisenden Richtern eine förmliche An¬
klagejury. Während aber in Deutschland die Centralgewalt rasch von ihrer
Höhe herabsank, und statt ihrer die zur Landesherrschaft aufstrebende Beamten¬
gewalt die freien Gemeindcverbände unterjochte, während in diesen selbst
Particulcmsmus und Standesunterschiede im Recht keine großen und gleich¬
artigen Formen entstehen ließen, fand England unter ganz gleichen Sym¬
ptomen im 11. Jahrhundert in der kräftigen Hand der ersten Normannen¬
könige Rettung vor dem gleichen Schicksal. Sie hielten die Gemeinden und
Hundertschaften strenge an, ihre Nügepflicht zu erfüllen, und zweimal im Jahr
examinirte der Sheriff, später der reisende Richter die Repräsentanten der
Hundertschaft über Friedensbrüche und deren muthmaßliche Urheber, wobei der
von zwölfen übereinstimmend als verdächtig Bezeichnete in den Anklagestand
versetzt galt und dem weitern Verfahren unterworfen wurde. Als dann seit
dem 15. Jahrhundert die Repräsentanten der ganzen Grafschaft die Anklage
aussprachen, ihr Verbiet also nicht mehr die wörtliche Bedeutung (vornen
Sieers) haben konnte, wonach sie als Zeugen und Wisser der That sprachen, bildete
sich das Verfahren vor ihnen aus, welches noch heute bei der Anklagejury
statt findet. Nach Abschluß der Voruntersuchung durch den Friedensrichter,


gnostikon damals auftauchender Entwürfe, von denen jedenfalls der Kirch-
mcmnsche in der preußischen Nationalversammlung und der Lauesche in der
Paulskirche die bedeutendsten und die Ansichten der Zeit am meisten bezeich¬
nenden waren, durfte lange nicht so günstig gestellt werden.

Daß man unter diesen Umständen nach einem fremden Vorbild griff, da
zu einer selbstständigen Schöpfung Erfahrung, Zeit und Muth fehlten, war
also natürlich. Merkwürdig aber bleibt es immerhin, daß dieses Vorbild
nicht bei einem Volk gesucht wurde, das uns in jeder Hinsicht so viel gleich¬
artiger und verwandter ist als das französische und die Einrichtung, um welche
es sich hier handelt, seit sechshundert Jahren von einem Keime aus entwickelt
hat, der auch in unserm Vaterlande einst vorhanden gewesen, aber bald durch
die Ungunst der Zeiten und fremde, kräftigere Elemente erstickt worden war.
Die deutsche Gerichtsverfassung unter Karl d. Gr. ähnelt der englischen unter
den letzten sächsischen, noch mehr aber der unter den ersten normännischen
Königen auf ein Haar. ' Das Reich ist in Grafschaften und Hundertschaften
getheilt, königliche Beamte ernennen die Schöffen und Präsidiren dem Gerichts¬
verfahren; reisende königliche Commissarien, an der Centralstelle das Pfalz¬
gericht — in England Limeum regis, Kings dvncli — finden sich hier wie
dort. Zur Aufrechthaltung des Friedens und der Verfolgung von Verbrechern
werden in beiden Ländern von den engern oder weitern Gemeindevcrbändcn
Männer gewühlt, die verpflichtet sind, jedes ihnen zu Ohren kommende Verbrechen
zu rügen und den Thäter zur Verantwortung zu ziehen. Unter Ludwig dem From¬
men gibt es in Deutschland bereits vor den reisenden Richtern eine förmliche An¬
klagejury. Während aber in Deutschland die Centralgewalt rasch von ihrer
Höhe herabsank, und statt ihrer die zur Landesherrschaft aufstrebende Beamten¬
gewalt die freien Gemeindcverbände unterjochte, während in diesen selbst
Particulcmsmus und Standesunterschiede im Recht keine großen und gleich¬
artigen Formen entstehen ließen, fand England unter ganz gleichen Sym¬
ptomen im 11. Jahrhundert in der kräftigen Hand der ersten Normannen¬
könige Rettung vor dem gleichen Schicksal. Sie hielten die Gemeinden und
Hundertschaften strenge an, ihre Nügepflicht zu erfüllen, und zweimal im Jahr
examinirte der Sheriff, später der reisende Richter die Repräsentanten der
Hundertschaft über Friedensbrüche und deren muthmaßliche Urheber, wobei der
von zwölfen übereinstimmend als verdächtig Bezeichnete in den Anklagestand
versetzt galt und dem weitern Verfahren unterworfen wurde. Als dann seit
dem 15. Jahrhundert die Repräsentanten der ganzen Grafschaft die Anklage
aussprachen, ihr Verbiet also nicht mehr die wörtliche Bedeutung (vornen
Sieers) haben konnte, wonach sie als Zeugen und Wisser der That sprachen, bildete
sich das Verfahren vor ihnen aus, welches noch heute bei der Anklagejury
statt findet. Nach Abschluß der Voruntersuchung durch den Friedensrichter,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/130>, abgerufen am 26.05.2024.