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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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und wenn diese nicht mit Entlastung des Verdächtigen endet, reicht der Pro¬
secutor die Anklageschrift (inclietmeut) bei der aus 12 bis 23 Grasschafts-
repräsentanten bestehenden großen Jury ein und diese beschließt nach flüchtiger
Anhörung der Anklagezeugen mit mindestens 12 Stimmen über die Ver¬
weisung an die sogenannte kleine oder Urtheilsjury. Dieselbe Function, welche in
Frankreich und bei uns durch den übereinstimmenden Beschluß der Rathskammer
des Untergerichts und der Anklagekammer des Obergerichts geübt wird, liegt
also in England gleichfalls einem Gemeindeausschuß ob, so daß der Englän¬
der mit Recht rühmt, in seinem Vaterlande könne nur der gleichlautende
Spruch von 24 seiner Mitbürger den Verdächtigen zum Verurtheilten machen.

Die Anklagejury ist aber, wie gesagt, durchaus nicht mit den Ge¬
schwornengerichten zu verwechseln. Sie bestand schon lange vor ihnen und
hat nur die Veranlassung zu ihrer Entwicklung gegeben, indem sie ein neues
Beweisverfahren zur Nothwendigkeit machte. Die alte Art des Beweises
war mit der neuen Anklageart, auf welche die ins-Mg, elrartg, jedem Engländer
ein Recht gab, nicht zu vereinen. Wo der Verdacht von einem einzigen Klä¬
ger ausgesprochen war, mochte es geschehen, daß der Verklagte durch seinen
und seiner Eideshelfer Reinigungseid den Beweis seiner Nichtschuld führte,
oder durch ehrlichen Kampf, Mann gegen Mann seinen Ankläger der Lüge zieh.
Seit 12 oder noch mehr achtbare Männer einstimmig ihren Verdacht aus¬
sprechen mußten, wenn der Anklagezustand eintreten sollte, wäre solches Ver-
fahren absurd gewesen. An das unmittelbare Walten einer gerechten und
allwissenden Vorsehung im Gottesurtheil glaubte man schon lange nicht mehr.
So blieb also nur das Aufsuchen eines völlig neuen Beweisverfahrcns übrig,
wenn das Urtheil gleich weit vor Willkür und Frivolität bewahrt bleiben
sollte, und hierfür bot eine durch Heinrich II. im Civilproceß gemachte Ein¬
richtung den nächsten Anknüpfungspunkt. -- Ueber Eigenthums-, Besitz- und Erb¬
schaftsangelegenheiten urtheilte nämlich ein aus 4 Rittern und 12 andern
Grundbesitzern der Hundertschaft bestehendes Gericht (die maßNÄ ^Lsisg, ge¬
nannt), theils nach dem. was seine Mitglieder selbst über die Streitsrage
wußten, theils nach dem, was sie durch andere glaubwürdige Personen darüber
erfuhren. Dann war diese Einrichtung auf alle civilrechtlichen Sachen aus¬
gedehnt worden, jedoch so, daß die urtheilende Commission dann nur aus 12
vom Sheriff ernannten oder durchs Loos bestimmten Grundbesitzern bestand
und alsdann ^urata genannt wurde. Wenn auch die Entscheidung über ein
heimlich verübtes Verbrechen, wegen des hinzutretender subjectiven Moments
in dem schuldvollen Willen des Angeklagten, eine viel schwierigere ist, als
die Feststellung der thatsächlichen Verhältnisse, welche einem Civilproceß zu
Grunde zu liegen pflegen, so war doch die Uebertragung der ^uraw auf das
Criminalversahren kein großer Sprung. Die Anklagejury entschied bereits


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und wenn diese nicht mit Entlastung des Verdächtigen endet, reicht der Pro¬
secutor die Anklageschrift (inclietmeut) bei der aus 12 bis 23 Grasschafts-
repräsentanten bestehenden großen Jury ein und diese beschließt nach flüchtiger
Anhörung der Anklagezeugen mit mindestens 12 Stimmen über die Ver¬
weisung an die sogenannte kleine oder Urtheilsjury. Dieselbe Function, welche in
Frankreich und bei uns durch den übereinstimmenden Beschluß der Rathskammer
des Untergerichts und der Anklagekammer des Obergerichts geübt wird, liegt
also in England gleichfalls einem Gemeindeausschuß ob, so daß der Englän¬
der mit Recht rühmt, in seinem Vaterlande könne nur der gleichlautende
Spruch von 24 seiner Mitbürger den Verdächtigen zum Verurtheilten machen.

Die Anklagejury ist aber, wie gesagt, durchaus nicht mit den Ge¬
schwornengerichten zu verwechseln. Sie bestand schon lange vor ihnen und
hat nur die Veranlassung zu ihrer Entwicklung gegeben, indem sie ein neues
Beweisverfahren zur Nothwendigkeit machte. Die alte Art des Beweises
war mit der neuen Anklageart, auf welche die ins-Mg, elrartg, jedem Engländer
ein Recht gab, nicht zu vereinen. Wo der Verdacht von einem einzigen Klä¬
ger ausgesprochen war, mochte es geschehen, daß der Verklagte durch seinen
und seiner Eideshelfer Reinigungseid den Beweis seiner Nichtschuld führte,
oder durch ehrlichen Kampf, Mann gegen Mann seinen Ankläger der Lüge zieh.
Seit 12 oder noch mehr achtbare Männer einstimmig ihren Verdacht aus¬
sprechen mußten, wenn der Anklagezustand eintreten sollte, wäre solches Ver-
fahren absurd gewesen. An das unmittelbare Walten einer gerechten und
allwissenden Vorsehung im Gottesurtheil glaubte man schon lange nicht mehr.
So blieb also nur das Aufsuchen eines völlig neuen Beweisverfahrcns übrig,
wenn das Urtheil gleich weit vor Willkür und Frivolität bewahrt bleiben
sollte, und hierfür bot eine durch Heinrich II. im Civilproceß gemachte Ein¬
richtung den nächsten Anknüpfungspunkt. — Ueber Eigenthums-, Besitz- und Erb¬
schaftsangelegenheiten urtheilte nämlich ein aus 4 Rittern und 12 andern
Grundbesitzern der Hundertschaft bestehendes Gericht (die maßNÄ ^Lsisg, ge¬
nannt), theils nach dem. was seine Mitglieder selbst über die Streitsrage
wußten, theils nach dem, was sie durch andere glaubwürdige Personen darüber
erfuhren. Dann war diese Einrichtung auf alle civilrechtlichen Sachen aus¬
gedehnt worden, jedoch so, daß die urtheilende Commission dann nur aus 12
vom Sheriff ernannten oder durchs Loos bestimmten Grundbesitzern bestand
und alsdann ^urata genannt wurde. Wenn auch die Entscheidung über ein
heimlich verübtes Verbrechen, wegen des hinzutretender subjectiven Moments
in dem schuldvollen Willen des Angeklagten, eine viel schwierigere ist, als
die Feststellung der thatsächlichen Verhältnisse, welche einem Civilproceß zu
Grunde zu liegen pflegen, so war doch die Uebertragung der ^uraw auf das
Criminalversahren kein großer Sprung. Die Anklagejury entschied bereits


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/131>, abgerufen am 17.06.2024.