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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Fall ist Vergrößerung nicht Ehrgeiz, sondern eine Garantie, ein unentbehr¬
liches Mittel, seine Unabhängigkeit zu bewahren. Dagegen sind die Absichten
Oestreichs durch keine Nothwendigkeit gerechtfertigt und berühren weder seine
Sicherheit noch seine Unabhängigkeit. Man darf selbst weiter gehen und ohne
Zaudern behaupten, daß die in Frage stehende Vergrößerung, obschon an sich
beträchtlich, kein andres Resultat haben würde, als die Knechtung (Ässorvikso-
iriöirt) Italiens und die Zerstörung des Gleichgewichts in Südeuropa, ohne
Oestreich wahre und dauernde Vortheile zu bringen. Diese Behauptung, so
auffallend sie auch scheinen mag, ist ans Vernunft und Erfahrung gegründet;
die natürlichen Grenzen zwischen Italien und Deutschland sind zu klar, als
daß diese beiden Länder jemals zu einem verschmolzen werden könnten. Die
Bewohner der Oestreich untergebenen italienischen Provinzen können sich heute
so wenig als vor hundert Jahren den Deutschen assimiliren." -- Trotz dieser
gewichtigen Gründe und ungeachtet der Bemühungen des sardinischen Gesand¬
ten in Petersburg, Grafen de Maistre, vollzog sich die Vertheilung, welche
den heutigen Besitzstand ergab. Es ist wahr, daß die schroffe Reaction und
Priesterherrschaft, welche in Sardinien der Wiedereinsetzung des alten Königs-
hauses folgte, gegen seine Wünsche einnahm, und Oestreich beutet" diesen Um¬
stand geschickt nach beiden Seiten aus, indem es den andern Mächten zu
verstehen gab, die Lombardei wolle nicht unter solchem Regiment stehen, und
indem es andrerseits durch seinen Einfluß auf die Geistlichkeit festen Fuß in
Piemont faßte; dazu kamen fürstliche Familienvcrbindungen. Doch würde
man sich täuschen, wenn man glaubte, daß die sardinischen Ultras, so sehr sie
im Innern das retrograde System aufrechthielten, sich in Bezug auf die
Gefahr, welche dem Staate durch Oestreich nach außen drohte, einschläfern
ließen. Der Graf de la Marguerita, dessen Neactionsstarrhcit so verrufen ist,
schrieb als auswärtiger Minister 1835 dem sardinischen Gesandten in einem
Circular: "Die östreichische Politik hat sich nicht geändert, sie verfolgt immer
dieselben Ziele, ihr Ehrgeiz ist noch größer als früher. In demselben Augen-
blick, da sie die päpstlichen Legationen begehrt, wirft sie. einen verlangenden
Blick aus das rechte Ufer des Tessino, den sie wieder überschreiten möchte, um
ihre Grenzen über die hinauszuschieben, welche die Verträge von Worms und
Aachen feststellten. Wenn Genua Sardinien einverleibt ist, so sind wir Oest¬
reich sicher nicht dafür verpflichtet, sicher hat es uns auf dem wiener Kongreß
nicht unterstützt. Glauben Sie ja nicht, daß wir irgend eine Verbindlichkeit
gegen eine Macht hätten, die uns nur das Gute gewährt, was sie nicht hin¬
dern kann. Darnach ist abzunehmen, mit wie großem Mißtrauen man alle
Freundschaftsbethcuerungen und alle Anerbietungen, welche in unserm Interesse
gemacht scheinen, aufnehmen muß. Den Worten der östreichischen Gesandten
darf kein Glaube geschenkt werden und ihren Versprechungen kein Vertrauen."


Fall ist Vergrößerung nicht Ehrgeiz, sondern eine Garantie, ein unentbehr¬
liches Mittel, seine Unabhängigkeit zu bewahren. Dagegen sind die Absichten
Oestreichs durch keine Nothwendigkeit gerechtfertigt und berühren weder seine
Sicherheit noch seine Unabhängigkeit. Man darf selbst weiter gehen und ohne
Zaudern behaupten, daß die in Frage stehende Vergrößerung, obschon an sich
beträchtlich, kein andres Resultat haben würde, als die Knechtung (Ässorvikso-
iriöirt) Italiens und die Zerstörung des Gleichgewichts in Südeuropa, ohne
Oestreich wahre und dauernde Vortheile zu bringen. Diese Behauptung, so
auffallend sie auch scheinen mag, ist ans Vernunft und Erfahrung gegründet;
die natürlichen Grenzen zwischen Italien und Deutschland sind zu klar, als
daß diese beiden Länder jemals zu einem verschmolzen werden könnten. Die
Bewohner der Oestreich untergebenen italienischen Provinzen können sich heute
so wenig als vor hundert Jahren den Deutschen assimiliren." — Trotz dieser
gewichtigen Gründe und ungeachtet der Bemühungen des sardinischen Gesand¬
ten in Petersburg, Grafen de Maistre, vollzog sich die Vertheilung, welche
den heutigen Besitzstand ergab. Es ist wahr, daß die schroffe Reaction und
Priesterherrschaft, welche in Sardinien der Wiedereinsetzung des alten Königs-
hauses folgte, gegen seine Wünsche einnahm, und Oestreich beutet« diesen Um¬
stand geschickt nach beiden Seiten aus, indem es den andern Mächten zu
verstehen gab, die Lombardei wolle nicht unter solchem Regiment stehen, und
indem es andrerseits durch seinen Einfluß auf die Geistlichkeit festen Fuß in
Piemont faßte; dazu kamen fürstliche Familienvcrbindungen. Doch würde
man sich täuschen, wenn man glaubte, daß die sardinischen Ultras, so sehr sie
im Innern das retrograde System aufrechthielten, sich in Bezug auf die
Gefahr, welche dem Staate durch Oestreich nach außen drohte, einschläfern
ließen. Der Graf de la Marguerita, dessen Neactionsstarrhcit so verrufen ist,
schrieb als auswärtiger Minister 1835 dem sardinischen Gesandten in einem
Circular: „Die östreichische Politik hat sich nicht geändert, sie verfolgt immer
dieselben Ziele, ihr Ehrgeiz ist noch größer als früher. In demselben Augen-
blick, da sie die päpstlichen Legationen begehrt, wirft sie. einen verlangenden
Blick aus das rechte Ufer des Tessino, den sie wieder überschreiten möchte, um
ihre Grenzen über die hinauszuschieben, welche die Verträge von Worms und
Aachen feststellten. Wenn Genua Sardinien einverleibt ist, so sind wir Oest¬
reich sicher nicht dafür verpflichtet, sicher hat es uns auf dem wiener Kongreß
nicht unterstützt. Glauben Sie ja nicht, daß wir irgend eine Verbindlichkeit
gegen eine Macht hätten, die uns nur das Gute gewährt, was sie nicht hin¬
dern kann. Darnach ist abzunehmen, mit wie großem Mißtrauen man alle
Freundschaftsbethcuerungen und alle Anerbietungen, welche in unserm Interesse
gemacht scheinen, aufnehmen muß. Den Worten der östreichischen Gesandten
darf kein Glaube geschenkt werden und ihren Versprechungen kein Vertrauen."


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[0100] Fall ist Vergrößerung nicht Ehrgeiz, sondern eine Garantie, ein unentbehr¬ liches Mittel, seine Unabhängigkeit zu bewahren. Dagegen sind die Absichten Oestreichs durch keine Nothwendigkeit gerechtfertigt und berühren weder seine Sicherheit noch seine Unabhängigkeit. Man darf selbst weiter gehen und ohne Zaudern behaupten, daß die in Frage stehende Vergrößerung, obschon an sich beträchtlich, kein andres Resultat haben würde, als die Knechtung (Ässorvikso- iriöirt) Italiens und die Zerstörung des Gleichgewichts in Südeuropa, ohne Oestreich wahre und dauernde Vortheile zu bringen. Diese Behauptung, so auffallend sie auch scheinen mag, ist ans Vernunft und Erfahrung gegründet; die natürlichen Grenzen zwischen Italien und Deutschland sind zu klar, als daß diese beiden Länder jemals zu einem verschmolzen werden könnten. Die Bewohner der Oestreich untergebenen italienischen Provinzen können sich heute so wenig als vor hundert Jahren den Deutschen assimiliren." — Trotz dieser gewichtigen Gründe und ungeachtet der Bemühungen des sardinischen Gesand¬ ten in Petersburg, Grafen de Maistre, vollzog sich die Vertheilung, welche den heutigen Besitzstand ergab. Es ist wahr, daß die schroffe Reaction und Priesterherrschaft, welche in Sardinien der Wiedereinsetzung des alten Königs- hauses folgte, gegen seine Wünsche einnahm, und Oestreich beutet« diesen Um¬ stand geschickt nach beiden Seiten aus, indem es den andern Mächten zu verstehen gab, die Lombardei wolle nicht unter solchem Regiment stehen, und indem es andrerseits durch seinen Einfluß auf die Geistlichkeit festen Fuß in Piemont faßte; dazu kamen fürstliche Familienvcrbindungen. Doch würde man sich täuschen, wenn man glaubte, daß die sardinischen Ultras, so sehr sie im Innern das retrograde System aufrechthielten, sich in Bezug auf die Gefahr, welche dem Staate durch Oestreich nach außen drohte, einschläfern ließen. Der Graf de la Marguerita, dessen Neactionsstarrhcit so verrufen ist, schrieb als auswärtiger Minister 1835 dem sardinischen Gesandten in einem Circular: „Die östreichische Politik hat sich nicht geändert, sie verfolgt immer dieselben Ziele, ihr Ehrgeiz ist noch größer als früher. In demselben Augen- blick, da sie die päpstlichen Legationen begehrt, wirft sie. einen verlangenden Blick aus das rechte Ufer des Tessino, den sie wieder überschreiten möchte, um ihre Grenzen über die hinauszuschieben, welche die Verträge von Worms und Aachen feststellten. Wenn Genua Sardinien einverleibt ist, so sind wir Oest¬ reich sicher nicht dafür verpflichtet, sicher hat es uns auf dem wiener Kongreß nicht unterstützt. Glauben Sie ja nicht, daß wir irgend eine Verbindlichkeit gegen eine Macht hätten, die uns nur das Gute gewährt, was sie nicht hin¬ dern kann. Darnach ist abzunehmen, mit wie großem Mißtrauen man alle Freundschaftsbethcuerungen und alle Anerbietungen, welche in unserm Interesse gemacht scheinen, aufnehmen muß. Den Worten der östreichischen Gesandten darf kein Glaube geschenkt werden und ihren Versprechungen kein Vertrauen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/100>, abgerufen am 16.06.2024.