Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Haschen und Springen nach Neuem getreten, der Glaube an sich selbst, der
sittliche Ernst mangelt. Eine Erscheinung jagt die andere, jede Richtung und
Manier wird einen Tag lang auf den Thron erhoben, um am nächsten im
Kothe geschleift zu werden, und das Ende des Kreislaufes ist -- Ermüdung.
Man kann nicht einmal mehr sagen, diese trübe Schilderung beziehe sich blos
auf die Zukunft, drücke Befürchtungen und nicht Wahrnehmungen aus. Wer
die französische Kunst seit einem Jahrzehnt genauer beobachtet, wird eingestehen
müssen, daß leider diese Befürchtungen schon theilweise eingetroffen sind, und
für die Koryphäen der französischen Kunst, die eben in den letzten Jahren so
merkwürdig rasch vom Schauplatz abtraten, keine Ersatzmänner auch nur an¬
näherungsweise sich zeigen. Nichts charakterisirt den Stand der Dinge in
Frankreich und Deutschland besser, als die Thatsache, daß Frankreich in der
Gegenwart keinen Bildhauer besitzt. Die bessern Talente verlassen diesen Zweig
und flüchten in die Malerwerkstätte. Sie verzweifeln daran, innerhalb der
Grenzen dieser Kunstgattung und ohne die Gesetze derselben zu'verletzen, eine
lebendige Plastik begründen zu können. Und doch können die Franzosen sich
rühmen, früher als wir die Kunst mit lebendigen Interessen vermählt zu haben.
Uns wirft man, und theilweise auch nicht mit Unrecht vor, daß wir der Kunst
ein Reich nicht von dieser Welt bauen und unvermögend sind, dem wirklichen
Leben, dem gegenwärtigen Geiste poetische Anregungen abzulauschen. Und
dennoch haben wir grade in der Plastik, Dank Rauch und Ritschel, diese
Fähigkeit am glänzendsten dargethan. Ein tiefer Ernst ist bei uns eingekehrt,
wir haben Vertrauen zum Leben, Liebe zum Volksthum, einen Glauben an
die Zukunft. Das sind Dinge, die auch dem Künstler zum Frommen dienen
und die rechte Stellung der Kunst im großen Volksorganismus wieder herbei¬
führen werden. Wir finden nicht allein, wenn wir den Blick auf die Entwick¬
lung unsrer Kunst zurückgleitcn lassen, die durchschnittliche Tüchtigkeit unsrer
Künstler im Wachsen begriffen, das erklärt sich einfach aus der längeren stetigen
Kunstübung, soudern auch die Grundsätze, die nach der Ueberzeugung aller Ein¬
sichtigen und Unbefangenen den Aufschwung und die dauernde Blüte der
Kunst bedingen, in den Künstlerkreisen immer fester anerkannt und kräftiger durch¬
geführt. Der Glaube an eine absolute Kunst, die durch keine Schranken und
Gesetze gebunden wird und die Willkür des Subjectes zur einzigen Richtschnur
nimmt, verliert sichtlich seine Anhänger, die Beziehungen zum Volksthum
werden nicht mehr gemieden, sondern eifrig ausgesucht, die Ueberzeugung, daß
in den bildenden Künsten die Formenpoesie vorzugsweise wirkt, ist allgemein
verbreitet, vor allem aber die Wahrheit, daß zwischen dem Material, dem
Ideenkreise und dem Formengcrüste ein festes Band und ein bestimmtes
Wechselverhältniß besteht, das nicht ungestraft umgangen werden kann, in ihr
altes Recht wieder eingesetzt. Diese frohe Erkenntniß in den Einen befestigt,


Haschen und Springen nach Neuem getreten, der Glaube an sich selbst, der
sittliche Ernst mangelt. Eine Erscheinung jagt die andere, jede Richtung und
Manier wird einen Tag lang auf den Thron erhoben, um am nächsten im
Kothe geschleift zu werden, und das Ende des Kreislaufes ist — Ermüdung.
Man kann nicht einmal mehr sagen, diese trübe Schilderung beziehe sich blos
auf die Zukunft, drücke Befürchtungen und nicht Wahrnehmungen aus. Wer
die französische Kunst seit einem Jahrzehnt genauer beobachtet, wird eingestehen
müssen, daß leider diese Befürchtungen schon theilweise eingetroffen sind, und
für die Koryphäen der französischen Kunst, die eben in den letzten Jahren so
merkwürdig rasch vom Schauplatz abtraten, keine Ersatzmänner auch nur an¬
näherungsweise sich zeigen. Nichts charakterisirt den Stand der Dinge in
Frankreich und Deutschland besser, als die Thatsache, daß Frankreich in der
Gegenwart keinen Bildhauer besitzt. Die bessern Talente verlassen diesen Zweig
und flüchten in die Malerwerkstätte. Sie verzweifeln daran, innerhalb der
Grenzen dieser Kunstgattung und ohne die Gesetze derselben zu'verletzen, eine
lebendige Plastik begründen zu können. Und doch können die Franzosen sich
rühmen, früher als wir die Kunst mit lebendigen Interessen vermählt zu haben.
Uns wirft man, und theilweise auch nicht mit Unrecht vor, daß wir der Kunst
ein Reich nicht von dieser Welt bauen und unvermögend sind, dem wirklichen
Leben, dem gegenwärtigen Geiste poetische Anregungen abzulauschen. Und
dennoch haben wir grade in der Plastik, Dank Rauch und Ritschel, diese
Fähigkeit am glänzendsten dargethan. Ein tiefer Ernst ist bei uns eingekehrt,
wir haben Vertrauen zum Leben, Liebe zum Volksthum, einen Glauben an
die Zukunft. Das sind Dinge, die auch dem Künstler zum Frommen dienen
und die rechte Stellung der Kunst im großen Volksorganismus wieder herbei¬
führen werden. Wir finden nicht allein, wenn wir den Blick auf die Entwick¬
lung unsrer Kunst zurückgleitcn lassen, die durchschnittliche Tüchtigkeit unsrer
Künstler im Wachsen begriffen, das erklärt sich einfach aus der längeren stetigen
Kunstübung, soudern auch die Grundsätze, die nach der Ueberzeugung aller Ein¬
sichtigen und Unbefangenen den Aufschwung und die dauernde Blüte der
Kunst bedingen, in den Künstlerkreisen immer fester anerkannt und kräftiger durch¬
geführt. Der Glaube an eine absolute Kunst, die durch keine Schranken und
Gesetze gebunden wird und die Willkür des Subjectes zur einzigen Richtschnur
nimmt, verliert sichtlich seine Anhänger, die Beziehungen zum Volksthum
werden nicht mehr gemieden, sondern eifrig ausgesucht, die Ueberzeugung, daß
in den bildenden Künsten die Formenpoesie vorzugsweise wirkt, ist allgemein
verbreitet, vor allem aber die Wahrheit, daß zwischen dem Material, dem
Ideenkreise und dem Formengcrüste ein festes Band und ein bestimmtes
Wechselverhältniß besteht, das nicht ungestraft umgangen werden kann, in ihr
altes Recht wieder eingesetzt. Diese frohe Erkenntniß in den Einen befestigt,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0160" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/265969"/>
            <p xml:id="ID_381" prev="#ID_380" next="#ID_382"> Haschen und Springen nach Neuem getreten, der Glaube an sich selbst, der<lb/>
sittliche Ernst mangelt. Eine Erscheinung jagt die andere, jede Richtung und<lb/>
Manier wird einen Tag lang auf den Thron erhoben, um am nächsten im<lb/>
Kothe geschleift zu werden, und das Ende des Kreislaufes ist &#x2014; Ermüdung.<lb/>
Man kann nicht einmal mehr sagen, diese trübe Schilderung beziehe sich blos<lb/>
auf die Zukunft, drücke Befürchtungen und nicht Wahrnehmungen aus. Wer<lb/>
die französische Kunst seit einem Jahrzehnt genauer beobachtet, wird eingestehen<lb/>
müssen, daß leider diese Befürchtungen schon theilweise eingetroffen sind, und<lb/>
für die Koryphäen der französischen Kunst, die eben in den letzten Jahren so<lb/>
merkwürdig rasch vom Schauplatz abtraten, keine Ersatzmänner auch nur an¬<lb/>
näherungsweise sich zeigen. Nichts charakterisirt den Stand der Dinge in<lb/>
Frankreich und Deutschland besser, als die Thatsache, daß Frankreich in der<lb/>
Gegenwart keinen Bildhauer besitzt. Die bessern Talente verlassen diesen Zweig<lb/>
und flüchten in die Malerwerkstätte. Sie verzweifeln daran, innerhalb der<lb/>
Grenzen dieser Kunstgattung und ohne die Gesetze derselben zu'verletzen, eine<lb/>
lebendige Plastik begründen zu können. Und doch können die Franzosen sich<lb/>
rühmen, früher als wir die Kunst mit lebendigen Interessen vermählt zu haben.<lb/>
Uns wirft man, und theilweise auch nicht mit Unrecht vor, daß wir der Kunst<lb/>
ein Reich nicht von dieser Welt bauen und unvermögend sind, dem wirklichen<lb/>
Leben, dem gegenwärtigen Geiste poetische Anregungen abzulauschen. Und<lb/>
dennoch haben wir grade in der Plastik, Dank Rauch und Ritschel, diese<lb/>
Fähigkeit am glänzendsten dargethan. Ein tiefer Ernst ist bei uns eingekehrt,<lb/>
wir haben Vertrauen zum Leben, Liebe zum Volksthum, einen Glauben an<lb/>
die Zukunft. Das sind Dinge, die auch dem Künstler zum Frommen dienen<lb/>
und die rechte Stellung der Kunst im großen Volksorganismus wieder herbei¬<lb/>
führen werden. Wir finden nicht allein, wenn wir den Blick auf die Entwick¬<lb/>
lung unsrer Kunst zurückgleitcn lassen, die durchschnittliche Tüchtigkeit unsrer<lb/>
Künstler im Wachsen begriffen, das erklärt sich einfach aus der längeren stetigen<lb/>
Kunstübung, soudern auch die Grundsätze, die nach der Ueberzeugung aller Ein¬<lb/>
sichtigen und Unbefangenen den Aufschwung und die dauernde Blüte der<lb/>
Kunst bedingen, in den Künstlerkreisen immer fester anerkannt und kräftiger durch¬<lb/>
geführt. Der Glaube an eine absolute Kunst, die durch keine Schranken und<lb/>
Gesetze gebunden wird und die Willkür des Subjectes zur einzigen Richtschnur<lb/>
nimmt, verliert sichtlich seine Anhänger, die Beziehungen zum Volksthum<lb/>
werden nicht mehr gemieden, sondern eifrig ausgesucht, die Ueberzeugung, daß<lb/>
in den bildenden Künsten die Formenpoesie vorzugsweise wirkt, ist allgemein<lb/>
verbreitet, vor allem aber die Wahrheit, daß zwischen dem Material, dem<lb/>
Ideenkreise und dem Formengcrüste ein festes Band und ein bestimmtes<lb/>
Wechselverhältniß besteht, das nicht ungestraft umgangen werden kann, in ihr<lb/>
altes Recht wieder eingesetzt.  Diese frohe Erkenntniß in den Einen befestigt,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0160] Haschen und Springen nach Neuem getreten, der Glaube an sich selbst, der sittliche Ernst mangelt. Eine Erscheinung jagt die andere, jede Richtung und Manier wird einen Tag lang auf den Thron erhoben, um am nächsten im Kothe geschleift zu werden, und das Ende des Kreislaufes ist — Ermüdung. Man kann nicht einmal mehr sagen, diese trübe Schilderung beziehe sich blos auf die Zukunft, drücke Befürchtungen und nicht Wahrnehmungen aus. Wer die französische Kunst seit einem Jahrzehnt genauer beobachtet, wird eingestehen müssen, daß leider diese Befürchtungen schon theilweise eingetroffen sind, und für die Koryphäen der französischen Kunst, die eben in den letzten Jahren so merkwürdig rasch vom Schauplatz abtraten, keine Ersatzmänner auch nur an¬ näherungsweise sich zeigen. Nichts charakterisirt den Stand der Dinge in Frankreich und Deutschland besser, als die Thatsache, daß Frankreich in der Gegenwart keinen Bildhauer besitzt. Die bessern Talente verlassen diesen Zweig und flüchten in die Malerwerkstätte. Sie verzweifeln daran, innerhalb der Grenzen dieser Kunstgattung und ohne die Gesetze derselben zu'verletzen, eine lebendige Plastik begründen zu können. Und doch können die Franzosen sich rühmen, früher als wir die Kunst mit lebendigen Interessen vermählt zu haben. Uns wirft man, und theilweise auch nicht mit Unrecht vor, daß wir der Kunst ein Reich nicht von dieser Welt bauen und unvermögend sind, dem wirklichen Leben, dem gegenwärtigen Geiste poetische Anregungen abzulauschen. Und dennoch haben wir grade in der Plastik, Dank Rauch und Ritschel, diese Fähigkeit am glänzendsten dargethan. Ein tiefer Ernst ist bei uns eingekehrt, wir haben Vertrauen zum Leben, Liebe zum Volksthum, einen Glauben an die Zukunft. Das sind Dinge, die auch dem Künstler zum Frommen dienen und die rechte Stellung der Kunst im großen Volksorganismus wieder herbei¬ führen werden. Wir finden nicht allein, wenn wir den Blick auf die Entwick¬ lung unsrer Kunst zurückgleitcn lassen, die durchschnittliche Tüchtigkeit unsrer Künstler im Wachsen begriffen, das erklärt sich einfach aus der längeren stetigen Kunstübung, soudern auch die Grundsätze, die nach der Ueberzeugung aller Ein¬ sichtigen und Unbefangenen den Aufschwung und die dauernde Blüte der Kunst bedingen, in den Künstlerkreisen immer fester anerkannt und kräftiger durch¬ geführt. Der Glaube an eine absolute Kunst, die durch keine Schranken und Gesetze gebunden wird und die Willkür des Subjectes zur einzigen Richtschnur nimmt, verliert sichtlich seine Anhänger, die Beziehungen zum Volksthum werden nicht mehr gemieden, sondern eifrig ausgesucht, die Ueberzeugung, daß in den bildenden Künsten die Formenpoesie vorzugsweise wirkt, ist allgemein verbreitet, vor allem aber die Wahrheit, daß zwischen dem Material, dem Ideenkreise und dem Formengcrüste ein festes Band und ein bestimmtes Wechselverhältniß besteht, das nicht ungestraft umgangen werden kann, in ihr altes Recht wieder eingesetzt. Diese frohe Erkenntniß in den Einen befestigt,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/160
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/160>, abgerufen am 24.05.2024.