Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ein guter Mensch sei, nach Kiel zu begleiten und ihm treu zu bleiben; sonst
wolle er seine Hand von ihr abziehn. ' >

In Kiel kokettirt sie nun viel mit Offizieren, selbst mit Prinzen, und der
Doctor, in beständiger Eifersucht, ergibt sich mehr und mehr dem Trunk und
raucht auch zuweilen Opium. Endlich verliebt sie sich in einen Schauspieler,
der schon halb und halb auf dem Sterbebett liegt, läßt sich von der gemeinen
Frau desselben ausbeuten, kündigt ihrem Doctor das Verhältniß ganz, begibt
sich mit der Schauspielerfamilie aus die Wanderschaft, bis ihr letztes Geld
verzehrt ist und beschließt dann in derselben Stadt, wo die gnädige Frau
Mäuse gefangen, als Jungfrau von Orleans zu debutiren. Sie macht Fiasco.
in derselben Nacht stirbt ihr Geliebter. Ohne das Grab ihrer Schwester zu
besuchen, ("alles schien ihr Traum und Wahn: den Fuß gesetzt auf jeden
Nacken, der sich nicht beugen will! das schien ihr eine Aufgabe allein des
Lebens würdig,") geht sie nach Köln, wo sie eine Annonce liest, "man sucht
im orthopädischen Institut ein gebildetes junges Frauenzimmer katholischer
Confession, das der Sprachen und Musik vollkommen kundig sein muß/' Sie
tritt ein und wird deshalb katholisch; wir können uns also jetzt vorstellen,
wer der Zauberer von Rom sein wird. "Ihr Kinderseelen ringsum! Mögen
lichtgcborene, gute Engel über euch wachen, Hüter und Schirmer vor dem
nachtdunklen Gefieder, das an Lucindens Haupte wie einer Tochter Lucifers
dämonisch aufzurauschen scheint." So schließt der Dichter den ersten Band.

Der gewöhnliche Leser kann sich nun der Frage nicht erwehren, was
Gutzkow, ganz abgesehn von den übrigen Scenen im Geschmack Eugen Sues,
sich eigentlich bei dem Charakter seiner Heldin gedacht hat? Beinahe gleich
auf der ersten Seite zeigt sie die beiden Eigenschaften, die ein Mädchen
dieser Classe fast unausbleiblich zum Ende in einem unreinlichen Ort prüdesti-
niren: die Neigung mit dem Leben zu spielen und die Neigung das Leben mit sich
spielen zu lassen; Liederlichkeit und Faulheit. So gut wie sie anderthalb Jahr
bei der Mäusefängcrin aushielt, würde sie auch bei einer ältlichen Dame mit
gemalten Wangen aushalten, die ihr einmal die Mühe ersparte, ein Obdach
zu suchen. Der Dichter belehrt aber in der Vorrede seine Freunde und
Glaubensgenossen, daß solche Fragen nicht statthaft seien. "Nur schwarze oder
Weiße Menschen haben wir Engverbundene in unserm Erfahrungsbuche nie
finden können und . . . stelle doch, du gefallenes Titanengcschlecht. Mensch¬
heit genannt, dem Weltenrichter einst große Aufgaben! Sprüche urtiefcr Weis¬
heit fallen am jüngsten Tage, nicht Schulcensuren ..." -- Der erste Band
enthält nur den "ersten schweren Jugendtraum eines in solcher Art gemischten
Charakters," "das junge Dämmerleben einer weiblichen Seele!" "Denn in
solchem Humor leben wir. All unser Denken und Handeln ahnt die Schatten
nicht, die es im Licht der Wahrheit wirst." -- Ebenso sagt er bereits in


ein guter Mensch sei, nach Kiel zu begleiten und ihm treu zu bleiben; sonst
wolle er seine Hand von ihr abziehn. ' >

In Kiel kokettirt sie nun viel mit Offizieren, selbst mit Prinzen, und der
Doctor, in beständiger Eifersucht, ergibt sich mehr und mehr dem Trunk und
raucht auch zuweilen Opium. Endlich verliebt sie sich in einen Schauspieler,
der schon halb und halb auf dem Sterbebett liegt, läßt sich von der gemeinen
Frau desselben ausbeuten, kündigt ihrem Doctor das Verhältniß ganz, begibt
sich mit der Schauspielerfamilie aus die Wanderschaft, bis ihr letztes Geld
verzehrt ist und beschließt dann in derselben Stadt, wo die gnädige Frau
Mäuse gefangen, als Jungfrau von Orleans zu debutiren. Sie macht Fiasco.
in derselben Nacht stirbt ihr Geliebter. Ohne das Grab ihrer Schwester zu
besuchen, („alles schien ihr Traum und Wahn: den Fuß gesetzt auf jeden
Nacken, der sich nicht beugen will! das schien ihr eine Aufgabe allein des
Lebens würdig,") geht sie nach Köln, wo sie eine Annonce liest, „man sucht
im orthopädischen Institut ein gebildetes junges Frauenzimmer katholischer
Confession, das der Sprachen und Musik vollkommen kundig sein muß/' Sie
tritt ein und wird deshalb katholisch; wir können uns also jetzt vorstellen,
wer der Zauberer von Rom sein wird. „Ihr Kinderseelen ringsum! Mögen
lichtgcborene, gute Engel über euch wachen, Hüter und Schirmer vor dem
nachtdunklen Gefieder, das an Lucindens Haupte wie einer Tochter Lucifers
dämonisch aufzurauschen scheint." So schließt der Dichter den ersten Band.

Der gewöhnliche Leser kann sich nun der Frage nicht erwehren, was
Gutzkow, ganz abgesehn von den übrigen Scenen im Geschmack Eugen Sues,
sich eigentlich bei dem Charakter seiner Heldin gedacht hat? Beinahe gleich
auf der ersten Seite zeigt sie die beiden Eigenschaften, die ein Mädchen
dieser Classe fast unausbleiblich zum Ende in einem unreinlichen Ort prüdesti-
niren: die Neigung mit dem Leben zu spielen und die Neigung das Leben mit sich
spielen zu lassen; Liederlichkeit und Faulheit. So gut wie sie anderthalb Jahr
bei der Mäusefängcrin aushielt, würde sie auch bei einer ältlichen Dame mit
gemalten Wangen aushalten, die ihr einmal die Mühe ersparte, ein Obdach
zu suchen. Der Dichter belehrt aber in der Vorrede seine Freunde und
Glaubensgenossen, daß solche Fragen nicht statthaft seien. „Nur schwarze oder
Weiße Menschen haben wir Engverbundene in unserm Erfahrungsbuche nie
finden können und . . . stelle doch, du gefallenes Titanengcschlecht. Mensch¬
heit genannt, dem Weltenrichter einst große Aufgaben! Sprüche urtiefcr Weis¬
heit fallen am jüngsten Tage, nicht Schulcensuren ..." — Der erste Band
enthält nur den „ersten schweren Jugendtraum eines in solcher Art gemischten
Charakters," „das junge Dämmerleben einer weiblichen Seele!" „Denn in
solchem Humor leben wir. All unser Denken und Handeln ahnt die Schatten
nicht, die es im Licht der Wahrheit wirst." — Ebenso sagt er bereits in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0199" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/266008"/>
          <p xml:id="ID_494" prev="#ID_493"> ein guter Mensch sei, nach Kiel zu begleiten und ihm treu zu bleiben; sonst<lb/>
wolle er seine Hand von ihr abziehn. ' &gt;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_495"> In Kiel kokettirt sie nun viel mit Offizieren, selbst mit Prinzen, und der<lb/>
Doctor, in beständiger Eifersucht, ergibt sich mehr und mehr dem Trunk und<lb/>
raucht auch zuweilen Opium. Endlich verliebt sie sich in einen Schauspieler,<lb/>
der schon halb und halb auf dem Sterbebett liegt, läßt sich von der gemeinen<lb/>
Frau desselben ausbeuten, kündigt ihrem Doctor das Verhältniß ganz, begibt<lb/>
sich mit der Schauspielerfamilie aus die Wanderschaft, bis ihr letztes Geld<lb/>
verzehrt ist und beschließt dann in derselben Stadt, wo die gnädige Frau<lb/>
Mäuse gefangen, als Jungfrau von Orleans zu debutiren. Sie macht Fiasco.<lb/>
in derselben Nacht stirbt ihr Geliebter. Ohne das Grab ihrer Schwester zu<lb/>
besuchen, (&#x201E;alles schien ihr Traum und Wahn: den Fuß gesetzt auf jeden<lb/>
Nacken, der sich nicht beugen will! das schien ihr eine Aufgabe allein des<lb/>
Lebens würdig,") geht sie nach Köln, wo sie eine Annonce liest, &#x201E;man sucht<lb/>
im orthopädischen Institut ein gebildetes junges Frauenzimmer katholischer<lb/>
Confession, das der Sprachen und Musik vollkommen kundig sein muß/' Sie<lb/>
tritt ein und wird deshalb katholisch; wir können uns also jetzt vorstellen,<lb/>
wer der Zauberer von Rom sein wird. &#x201E;Ihr Kinderseelen ringsum! Mögen<lb/>
lichtgcborene, gute Engel über euch wachen, Hüter und Schirmer vor dem<lb/>
nachtdunklen Gefieder, das an Lucindens Haupte wie einer Tochter Lucifers<lb/>
dämonisch aufzurauschen scheint." So schließt der Dichter den ersten Band.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_496" next="#ID_497"> Der gewöhnliche Leser kann sich nun der Frage nicht erwehren, was<lb/>
Gutzkow, ganz abgesehn von den übrigen Scenen im Geschmack Eugen Sues,<lb/>
sich eigentlich bei dem Charakter seiner Heldin gedacht hat? Beinahe gleich<lb/>
auf der ersten Seite zeigt sie die beiden Eigenschaften, die ein Mädchen<lb/>
dieser Classe fast unausbleiblich zum Ende in einem unreinlichen Ort prüdesti-<lb/>
niren: die Neigung mit dem Leben zu spielen und die Neigung das Leben mit sich<lb/>
spielen zu lassen; Liederlichkeit und Faulheit. So gut wie sie anderthalb Jahr<lb/>
bei der Mäusefängcrin aushielt, würde sie auch bei einer ältlichen Dame mit<lb/>
gemalten Wangen aushalten, die ihr einmal die Mühe ersparte, ein Obdach<lb/>
zu suchen. Der Dichter belehrt aber in der Vorrede seine Freunde und<lb/>
Glaubensgenossen, daß solche Fragen nicht statthaft seien. &#x201E;Nur schwarze oder<lb/>
Weiße Menschen haben wir Engverbundene in unserm Erfahrungsbuche nie<lb/>
finden können und . . . stelle doch, du gefallenes Titanengcschlecht. Mensch¬<lb/>
heit genannt, dem Weltenrichter einst große Aufgaben! Sprüche urtiefcr Weis¬<lb/>
heit fallen am jüngsten Tage, nicht Schulcensuren ..." &#x2014; Der erste Band<lb/>
enthält nur den &#x201E;ersten schweren Jugendtraum eines in solcher Art gemischten<lb/>
Charakters," &#x201E;das junge Dämmerleben einer weiblichen Seele!" &#x201E;Denn in<lb/>
solchem Humor leben wir. All unser Denken und Handeln ahnt die Schatten<lb/>
nicht, die es im Licht der Wahrheit wirst." &#x2014; Ebenso sagt er bereits in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0199] ein guter Mensch sei, nach Kiel zu begleiten und ihm treu zu bleiben; sonst wolle er seine Hand von ihr abziehn. ' > In Kiel kokettirt sie nun viel mit Offizieren, selbst mit Prinzen, und der Doctor, in beständiger Eifersucht, ergibt sich mehr und mehr dem Trunk und raucht auch zuweilen Opium. Endlich verliebt sie sich in einen Schauspieler, der schon halb und halb auf dem Sterbebett liegt, läßt sich von der gemeinen Frau desselben ausbeuten, kündigt ihrem Doctor das Verhältniß ganz, begibt sich mit der Schauspielerfamilie aus die Wanderschaft, bis ihr letztes Geld verzehrt ist und beschließt dann in derselben Stadt, wo die gnädige Frau Mäuse gefangen, als Jungfrau von Orleans zu debutiren. Sie macht Fiasco. in derselben Nacht stirbt ihr Geliebter. Ohne das Grab ihrer Schwester zu besuchen, („alles schien ihr Traum und Wahn: den Fuß gesetzt auf jeden Nacken, der sich nicht beugen will! das schien ihr eine Aufgabe allein des Lebens würdig,") geht sie nach Köln, wo sie eine Annonce liest, „man sucht im orthopädischen Institut ein gebildetes junges Frauenzimmer katholischer Confession, das der Sprachen und Musik vollkommen kundig sein muß/' Sie tritt ein und wird deshalb katholisch; wir können uns also jetzt vorstellen, wer der Zauberer von Rom sein wird. „Ihr Kinderseelen ringsum! Mögen lichtgcborene, gute Engel über euch wachen, Hüter und Schirmer vor dem nachtdunklen Gefieder, das an Lucindens Haupte wie einer Tochter Lucifers dämonisch aufzurauschen scheint." So schließt der Dichter den ersten Band. Der gewöhnliche Leser kann sich nun der Frage nicht erwehren, was Gutzkow, ganz abgesehn von den übrigen Scenen im Geschmack Eugen Sues, sich eigentlich bei dem Charakter seiner Heldin gedacht hat? Beinahe gleich auf der ersten Seite zeigt sie die beiden Eigenschaften, die ein Mädchen dieser Classe fast unausbleiblich zum Ende in einem unreinlichen Ort prüdesti- niren: die Neigung mit dem Leben zu spielen und die Neigung das Leben mit sich spielen zu lassen; Liederlichkeit und Faulheit. So gut wie sie anderthalb Jahr bei der Mäusefängcrin aushielt, würde sie auch bei einer ältlichen Dame mit gemalten Wangen aushalten, die ihr einmal die Mühe ersparte, ein Obdach zu suchen. Der Dichter belehrt aber in der Vorrede seine Freunde und Glaubensgenossen, daß solche Fragen nicht statthaft seien. „Nur schwarze oder Weiße Menschen haben wir Engverbundene in unserm Erfahrungsbuche nie finden können und . . . stelle doch, du gefallenes Titanengcschlecht. Mensch¬ heit genannt, dem Weltenrichter einst große Aufgaben! Sprüche urtiefcr Weis¬ heit fallen am jüngsten Tage, nicht Schulcensuren ..." — Der erste Band enthält nur den „ersten schweren Jugendtraum eines in solcher Art gemischten Charakters," „das junge Dämmerleben einer weiblichen Seele!" „Denn in solchem Humor leben wir. All unser Denken und Handeln ahnt die Schatten nicht, die es im Licht der Wahrheit wirst." — Ebenso sagt er bereits in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/199
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/199>, abgerufen am 24.05.2024.