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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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funden, kam zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, man sagt über Venedig,
nach Sachsen, wo die Strumpfwirkers allmälig und besonders seit Stiftung
des Zollvereins einen großen Aufschwung nahm, und jetzt nicht blos einen
beträchtlichen Theil der Deutschen, sondern auch viele Italiener, Araber, Tür¬
ken und vor allem viele Amerikaner mit Fußbekleidung versorgt.

Die Strumpfwirker arbeiten, als Zunft in Meister. Gesellen und Lehrlinge
gegliedert, für Factoren, welche die Waare aufkaufen und dem Großhändler
überliefern, der sie bleichen, zurichten und schließlich versenden läßt. Mehre
große Fabrikanten lassen neuerdings viel auf sogenannten Nundstühlen arbei¬
ten, Maschinen, welche nicht blos rascher als der alte Stuhl arbeiten, sondern
auch mehre Strümpfe zugleich herstellen, so daß eine einzige derselben wöchent¬
lich vierzig bis fünfzig Dutzend liefern kann. Wie in andern Gewerbsbczirkcn
findet man auch in der Strumpfwirkergcgend, daß sich einzelne Orte aus ge¬
wisse Arbeiten besonders legen: der eine Ort fertigt nur baumwollne Strümpfe,
der andere nur baumwollene Handschuhe, der dritte legt sich auf halbseidne,
ein vierter auf Jacken und Mützen. Der Verdienst ist, wenn das Strumpf-
geschäst sich vollen Absatzes erfreut, ein guter; ein Arbeiter kann wöchentlich
vier Thaler erwirken. Verbreitet der Nundstuhl sich weiter, so wird sich die
Hausindustrie der Strumpfwirker vermuthlich in eine Fabrikindustrie verwandeln.

Die Hauptstadt des Strumpfwirkcrbezirks und die industrielle Großstadt
des ganzen Königreichs, Chemnitz, kündigt sich schon von fern durch die
Rauchwolke an, welche ihren zahlreichen Fabrikschornsteinen entsteigt. Ihre
Umgebung, arm an Bergen und ohne große Gewässer, zeigt nichts von Inter¬
esse für den Freund schöner Gegenden. Die Stadt selbst bietet dem Maler
ebenso wenig Interessantes. Sie besitzt keinen einzigen Thurm von einiger
Höhe, und niemand sieht ihr an, daß sie fast tausend Jahre alt ist. Auch
die Geschichte von Chemnitz ist entschieden unromantisch. Sie erzählt nichts
von Belagerungen und Schlachten, nichts von großen Kämpfen der Bürger¬
schaft, nichts von besondern Thaten auf dem Gebiet des dichterisch schaffen¬
den oder philosophisch speculirenden Geistes. Ihre Epochen datiren von
den Epochen der Technologie, von den Phasen der Handelsgesetzgcbung und
der Handelsconjuncturen. Vor dem dreißigjährigen Kriege blühte hier das
Tuchmachergewerbe. Dieses ging infolge jenes Krieges fast ganz ein, aber
bald erhob sich ein neuer Industriezweig an dein hierdurch nur beschädigten,
nicht ertödteten Baume. Chemnitz begann gegen Ende des siebzehnten Jahr¬
hunderts, also früher als seine jetzigen deutschen Rivalen, diejenige Faser im
Großen zu verarbeiten, von welcher die Entwicklung der neuern Industrie haupt¬
sächlich abhängen sollte, nämlich die Baumwolle. Schon fünzig Jahre nach
Eröffnung der neuen industriellen Bahn gingen in Chemnitz 2000 Stühle für
Baumwollengcwebe. Seit 1770 entwickelte sich der Zeugdruck. Bald surrte


funden, kam zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, man sagt über Venedig,
nach Sachsen, wo die Strumpfwirkers allmälig und besonders seit Stiftung
des Zollvereins einen großen Aufschwung nahm, und jetzt nicht blos einen
beträchtlichen Theil der Deutschen, sondern auch viele Italiener, Araber, Tür¬
ken und vor allem viele Amerikaner mit Fußbekleidung versorgt.

Die Strumpfwirker arbeiten, als Zunft in Meister. Gesellen und Lehrlinge
gegliedert, für Factoren, welche die Waare aufkaufen und dem Großhändler
überliefern, der sie bleichen, zurichten und schließlich versenden läßt. Mehre
große Fabrikanten lassen neuerdings viel auf sogenannten Nundstühlen arbei¬
ten, Maschinen, welche nicht blos rascher als der alte Stuhl arbeiten, sondern
auch mehre Strümpfe zugleich herstellen, so daß eine einzige derselben wöchent¬
lich vierzig bis fünfzig Dutzend liefern kann. Wie in andern Gewerbsbczirkcn
findet man auch in der Strumpfwirkergcgend, daß sich einzelne Orte aus ge¬
wisse Arbeiten besonders legen: der eine Ort fertigt nur baumwollne Strümpfe,
der andere nur baumwollene Handschuhe, der dritte legt sich auf halbseidne,
ein vierter auf Jacken und Mützen. Der Verdienst ist, wenn das Strumpf-
geschäst sich vollen Absatzes erfreut, ein guter; ein Arbeiter kann wöchentlich
vier Thaler erwirken. Verbreitet der Nundstuhl sich weiter, so wird sich die
Hausindustrie der Strumpfwirker vermuthlich in eine Fabrikindustrie verwandeln.

Die Hauptstadt des Strumpfwirkcrbezirks und die industrielle Großstadt
des ganzen Königreichs, Chemnitz, kündigt sich schon von fern durch die
Rauchwolke an, welche ihren zahlreichen Fabrikschornsteinen entsteigt. Ihre
Umgebung, arm an Bergen und ohne große Gewässer, zeigt nichts von Inter¬
esse für den Freund schöner Gegenden. Die Stadt selbst bietet dem Maler
ebenso wenig Interessantes. Sie besitzt keinen einzigen Thurm von einiger
Höhe, und niemand sieht ihr an, daß sie fast tausend Jahre alt ist. Auch
die Geschichte von Chemnitz ist entschieden unromantisch. Sie erzählt nichts
von Belagerungen und Schlachten, nichts von großen Kämpfen der Bürger¬
schaft, nichts von besondern Thaten auf dem Gebiet des dichterisch schaffen¬
den oder philosophisch speculirenden Geistes. Ihre Epochen datiren von
den Epochen der Technologie, von den Phasen der Handelsgesetzgcbung und
der Handelsconjuncturen. Vor dem dreißigjährigen Kriege blühte hier das
Tuchmachergewerbe. Dieses ging infolge jenes Krieges fast ganz ein, aber
bald erhob sich ein neuer Industriezweig an dein hierdurch nur beschädigten,
nicht ertödteten Baume. Chemnitz begann gegen Ende des siebzehnten Jahr¬
hunderts, also früher als seine jetzigen deutschen Rivalen, diejenige Faser im
Großen zu verarbeiten, von welcher die Entwicklung der neuern Industrie haupt¬
sächlich abhängen sollte, nämlich die Baumwolle. Schon fünzig Jahre nach
Eröffnung der neuen industriellen Bahn gingen in Chemnitz 2000 Stühle für
Baumwollengcwebe. Seit 1770 entwickelte sich der Zeugdruck. Bald surrte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/186>, abgerufen am 27.05.2024.