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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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allgemeinste Ueberzeugung wird dann nicht ausbleiben, daß es Händel bei
seinen Werken nicht einzig und allein daraus ankam, schöne Arien und aus¬
drucksvolle Chöre zu schreiben, sondern daß jedem Werk eine geschlossene
Idee zu Grunde liegt, und aus dieser Idee heraus Handlung und Musik mit
Nothwendigkeit hervorgehen. Demzufolge trägt die Musik in Händels Ora¬
torien außer den charakteristischen Unterschieden der einzelnen Personen, Chöre
und Scenen, auch in jedem Werke eine andere, rein vom Stoff ausgehende,
wunderbar treffende historische Färbung, die sich mehr fühlen wie beschrei¬
ben läßt.

So ist schon Gegensatz genug zwischen dem besprochenen Oratorium und
der märchenhaften Poesie des Pastorale "Acis und Galatea", welche den
dritten Band des Jahrganges bildet. Den Anfang macht ein Chor, den
Nymphen und Schäfer zum Preis der ländlichen Fluren singen, während Ga¬
latea sich der Sehnsucht nach ihrem Geliebten hingibt. Dieser sucht sie
gleichfalls, trotz Dämons, eines Schüfers Warnung, er möge diese Liebe
fliehen, durch die ihm Verderben drohe. Das Paar findet sich, und der Chor
feiert ihre Schönheit und gemeinsames Glück. Im ganzen ersten Act ist alles
Freude, Sehnsucht, Liebe und Liebesglück -- aber zu Anfang des zweiten
Actes naht das Ungeheuer Polyphem; ahnende Trauer um das Geschick der
Liebenden und Furcht vor dem Ungeheuer bezeigen die Genossen des Paares
in dem an Form und Ausdruck vortrefflichen Chor "Armes Paar", mit dem
Gegenthema "seht das Ungeheuer nahm". Unterdessen kommt Polyphem mit
Toben und Schelten aus den schmächtigen Gott, der ihm das Herz durchbohrt
hat, a,ngestapft, und bietet der Galatea in höchst lächerlichen Tiraden einen
Platz in seinem Herzen und seinen Armen an, wird aber trotzdem, daß er
selbst sich mit Zeus vergleicht, ruhig abgewiesen. Die Gestalt des Polyphem
ist musikalisch mit großer Vorliebe gezeichnet, die Komi! des Schrecklichen ist
von drastischer Wirkung. Er singt vor Wuth eine funkensprühende Arie
("treffe Fluch dies Liebesschmachten"), deren Komik die vor Zorn bebenden
punktirten Achtelnoten und einen leisen Anflug von Sentimentalität noch er¬
höht wird. Sein Rachedurst erreicht, Dämons Ermahnung sich liebens¬
würdiger zu betragen ungeachtet, die höchste Höhe, weil in dem herrlichen
Terzett "dem Berge mag die Heerde" (zwischen ihm, Acis und Galatea) die
Liebenden in ihren gegenseitigen Betheuerungen ungestört fortfahren, und ihn
und seine lächerlichen Ausbrüche völlig ignoriren. Er macht sich ihnen aller¬
dings nur zu sehr bemerklich, indem er das ihm verhaßte Liebesschmachten.
deren Gegenstand er nun doch einmal nicht sein kann, dadurch unterbricht,
daß er dem Acis einen Felsblock an den Kopf wirft. Der folgende Klage¬
gesang der Galatea und ihrer Nymphen schließt die Scene wahrhaft rührend
ab. Auf den Rath des Chores verwandelt Galatea ihren Geliebten in einen


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allgemeinste Ueberzeugung wird dann nicht ausbleiben, daß es Händel bei
seinen Werken nicht einzig und allein daraus ankam, schöne Arien und aus¬
drucksvolle Chöre zu schreiben, sondern daß jedem Werk eine geschlossene
Idee zu Grunde liegt, und aus dieser Idee heraus Handlung und Musik mit
Nothwendigkeit hervorgehen. Demzufolge trägt die Musik in Händels Ora¬
torien außer den charakteristischen Unterschieden der einzelnen Personen, Chöre
und Scenen, auch in jedem Werke eine andere, rein vom Stoff ausgehende,
wunderbar treffende historische Färbung, die sich mehr fühlen wie beschrei¬
ben läßt.

So ist schon Gegensatz genug zwischen dem besprochenen Oratorium und
der märchenhaften Poesie des Pastorale „Acis und Galatea", welche den
dritten Band des Jahrganges bildet. Den Anfang macht ein Chor, den
Nymphen und Schäfer zum Preis der ländlichen Fluren singen, während Ga¬
latea sich der Sehnsucht nach ihrem Geliebten hingibt. Dieser sucht sie
gleichfalls, trotz Dämons, eines Schüfers Warnung, er möge diese Liebe
fliehen, durch die ihm Verderben drohe. Das Paar findet sich, und der Chor
feiert ihre Schönheit und gemeinsames Glück. Im ganzen ersten Act ist alles
Freude, Sehnsucht, Liebe und Liebesglück — aber zu Anfang des zweiten
Actes naht das Ungeheuer Polyphem; ahnende Trauer um das Geschick der
Liebenden und Furcht vor dem Ungeheuer bezeigen die Genossen des Paares
in dem an Form und Ausdruck vortrefflichen Chor „Armes Paar", mit dem
Gegenthema „seht das Ungeheuer nahm". Unterdessen kommt Polyphem mit
Toben und Schelten aus den schmächtigen Gott, der ihm das Herz durchbohrt
hat, a,ngestapft, und bietet der Galatea in höchst lächerlichen Tiraden einen
Platz in seinem Herzen und seinen Armen an, wird aber trotzdem, daß er
selbst sich mit Zeus vergleicht, ruhig abgewiesen. Die Gestalt des Polyphem
ist musikalisch mit großer Vorliebe gezeichnet, die Komi! des Schrecklichen ist
von drastischer Wirkung. Er singt vor Wuth eine funkensprühende Arie
(„treffe Fluch dies Liebesschmachten"), deren Komik die vor Zorn bebenden
punktirten Achtelnoten und einen leisen Anflug von Sentimentalität noch er¬
höht wird. Sein Rachedurst erreicht, Dämons Ermahnung sich liebens¬
würdiger zu betragen ungeachtet, die höchste Höhe, weil in dem herrlichen
Terzett „dem Berge mag die Heerde" (zwischen ihm, Acis und Galatea) die
Liebenden in ihren gegenseitigen Betheuerungen ungestört fortfahren, und ihn
und seine lächerlichen Ausbrüche völlig ignoriren. Er macht sich ihnen aller¬
dings nur zu sehr bemerklich, indem er das ihm verhaßte Liebesschmachten.
deren Gegenstand er nun doch einmal nicht sein kann, dadurch unterbricht,
daß er dem Acis einen Felsblock an den Kopf wirft. Der folgende Klage¬
gesang der Galatea und ihrer Nymphen schließt die Scene wahrhaft rührend
ab. Auf den Rath des Chores verwandelt Galatea ihren Geliebten in einen


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[0505] allgemeinste Ueberzeugung wird dann nicht ausbleiben, daß es Händel bei seinen Werken nicht einzig und allein daraus ankam, schöne Arien und aus¬ drucksvolle Chöre zu schreiben, sondern daß jedem Werk eine geschlossene Idee zu Grunde liegt, und aus dieser Idee heraus Handlung und Musik mit Nothwendigkeit hervorgehen. Demzufolge trägt die Musik in Händels Ora¬ torien außer den charakteristischen Unterschieden der einzelnen Personen, Chöre und Scenen, auch in jedem Werke eine andere, rein vom Stoff ausgehende, wunderbar treffende historische Färbung, die sich mehr fühlen wie beschrei¬ ben läßt. So ist schon Gegensatz genug zwischen dem besprochenen Oratorium und der märchenhaften Poesie des Pastorale „Acis und Galatea", welche den dritten Band des Jahrganges bildet. Den Anfang macht ein Chor, den Nymphen und Schäfer zum Preis der ländlichen Fluren singen, während Ga¬ latea sich der Sehnsucht nach ihrem Geliebten hingibt. Dieser sucht sie gleichfalls, trotz Dämons, eines Schüfers Warnung, er möge diese Liebe fliehen, durch die ihm Verderben drohe. Das Paar findet sich, und der Chor feiert ihre Schönheit und gemeinsames Glück. Im ganzen ersten Act ist alles Freude, Sehnsucht, Liebe und Liebesglück — aber zu Anfang des zweiten Actes naht das Ungeheuer Polyphem; ahnende Trauer um das Geschick der Liebenden und Furcht vor dem Ungeheuer bezeigen die Genossen des Paares in dem an Form und Ausdruck vortrefflichen Chor „Armes Paar", mit dem Gegenthema „seht das Ungeheuer nahm". Unterdessen kommt Polyphem mit Toben und Schelten aus den schmächtigen Gott, der ihm das Herz durchbohrt hat, a,ngestapft, und bietet der Galatea in höchst lächerlichen Tiraden einen Platz in seinem Herzen und seinen Armen an, wird aber trotzdem, daß er selbst sich mit Zeus vergleicht, ruhig abgewiesen. Die Gestalt des Polyphem ist musikalisch mit großer Vorliebe gezeichnet, die Komi! des Schrecklichen ist von drastischer Wirkung. Er singt vor Wuth eine funkensprühende Arie („treffe Fluch dies Liebesschmachten"), deren Komik die vor Zorn bebenden punktirten Achtelnoten und einen leisen Anflug von Sentimentalität noch er¬ höht wird. Sein Rachedurst erreicht, Dämons Ermahnung sich liebens¬ würdiger zu betragen ungeachtet, die höchste Höhe, weil in dem herrlichen Terzett „dem Berge mag die Heerde" (zwischen ihm, Acis und Galatea) die Liebenden in ihren gegenseitigen Betheuerungen ungestört fortfahren, und ihn und seine lächerlichen Ausbrüche völlig ignoriren. Er macht sich ihnen aller¬ dings nur zu sehr bemerklich, indem er das ihm verhaßte Liebesschmachten. deren Gegenstand er nun doch einmal nicht sein kann, dadurch unterbricht, daß er dem Acis einen Felsblock an den Kopf wirft. Der folgende Klage¬ gesang der Galatea und ihrer Nymphen schließt die Scene wahrhaft rührend ab. Auf den Rath des Chores verwandelt Galatea ihren Geliebten in einen 62*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/505>, abgerufen am 25.05.2024.