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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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dem Princip! der Kunst, die nur sich selbst zum Zweck hat, fängst entwand'
sen sind. Eben darum ist es nothwendig, darauf aufmerksam zu machen,
daß trotz aller Uebelstände, die ihm ankleben, in seinem innersten sittlichen
Kern der Rationalismus ebenso im Recht ist gegen seine Gegner, die Ortho¬
doxen und die Pantheisten, als die Reformation im Recht ist gegen die alte
Kirchenform. Es ist nur eine Vernunft in der Welt, und das Wichtigste in
der Religion ist ihr sittlicher Geist: dieses Glaubensbekenntniß des Rationalis¬
mus ist auch das Prinzip der neuen Zeit.

Zwar wissen wir sehr wohl, daß man durch ein bloßes Aussprechen der
Bedürfnisse noch nichts schafft, daß die Einsicht in das Wesen der Kirche noch
nicht die Fähigkeit gibt, die Kirche zu reformiren: wol aber ist es zur Vorbe¬
reitung einer Reformation, die nur von der Kirche selbst ausgehen kann, wich¬
tig, die Ansprüche zu formuliren, die das Lcuenthum ihr entgegenzubringen
berechtigt ist.

Erstens: Die Kirche muß neben sich und in sich die Wissenschaft ertragen
können; kann sie das nicht, so setzt sie sich einem Kampf aus, der endlich
ihrem Verderben sührt.

Zweitens: die Kirche muß alle Anforderungen des sittlichen Geistes, ^
weit sie sich auf ihr Gebiet beziehn, befriedigen, sie darf keiner Anforderung
des sittlichen Geistes, auch außerhalb ihres Gebiets, widersprechen. Mit der
nothwendigen Tendenz, als Reich Gottes die allgemeine Kirche zu werdem nu>V
sie die Fähigkeit verbinden, auf dem Boden des Rechts alle andern Glauben^
formen, auch die sie innerlich verdammt, neben sich zu ertragen.

Drittens: wenn es auch eine unsinnige Anforderung wäre!, für jedes Gefuy
in ihr Befriedigung zu verlangen, so muß sie doch wenigstens dem individuellen
Gefühl die Möglichkeit geben, sich geltend zu machen/ Wir sind der festen Ueber¬
zeugung, daß der Protestantismus, ohne von seinem Gehalt etwas einzubüßen-
eine Reform des Cultus zuläßt, welche nicht blos eine größere, sondern auch
eine gemüthlichere Theilnahme der Einzelnen ermöglicht. Wenn man diesen
sichtspunkt festhält, so wird man auch die schwierigste Frage übet den innige^
Zusammenhang der Kirche mit der Kunst nicht für unlösbar halten.n

Es gibt kein kräftigeres. kein tiefer die Seele ergreifendes Mittel, de
innern Zusammenhang der Seele darzustellen, als die Kirche. Daß dieser A
sammenhang in der Gegenwart äußerst wenig hervortritt, daran hat ste>^
die materialistische Richtung unsers Zeitalters einige Schuld, aber bei weüe"'
nicht alle. Freilich war es früher eine bei weitem gemüthlichere Einrichtung, ^
die Kirchhöfe zugleich die Friedhöfe waren und daß man sich bei jedem ^
tritt in die Kirche der lieben Todten erinnerte; freilich hat der sanitätische
sichtspunkt, der beide voneinander trennt, dieser Gemüthlichkeit vielen Ubbo^
gethan. Aber solche Außendinge sind doch nicht die Hauptsache. Die Ha"p'


dem Princip! der Kunst, die nur sich selbst zum Zweck hat, fängst entwand'
sen sind. Eben darum ist es nothwendig, darauf aufmerksam zu machen,
daß trotz aller Uebelstände, die ihm ankleben, in seinem innersten sittlichen
Kern der Rationalismus ebenso im Recht ist gegen seine Gegner, die Ortho¬
doxen und die Pantheisten, als die Reformation im Recht ist gegen die alte
Kirchenform. Es ist nur eine Vernunft in der Welt, und das Wichtigste in
der Religion ist ihr sittlicher Geist: dieses Glaubensbekenntniß des Rationalis¬
mus ist auch das Prinzip der neuen Zeit.

Zwar wissen wir sehr wohl, daß man durch ein bloßes Aussprechen der
Bedürfnisse noch nichts schafft, daß die Einsicht in das Wesen der Kirche noch
nicht die Fähigkeit gibt, die Kirche zu reformiren: wol aber ist es zur Vorbe¬
reitung einer Reformation, die nur von der Kirche selbst ausgehen kann, wich¬
tig, die Ansprüche zu formuliren, die das Lcuenthum ihr entgegenzubringen
berechtigt ist.

Erstens: Die Kirche muß neben sich und in sich die Wissenschaft ertragen
können; kann sie das nicht, so setzt sie sich einem Kampf aus, der endlich
ihrem Verderben sührt.

Zweitens: die Kirche muß alle Anforderungen des sittlichen Geistes, ^
weit sie sich auf ihr Gebiet beziehn, befriedigen, sie darf keiner Anforderung
des sittlichen Geistes, auch außerhalb ihres Gebiets, widersprechen. Mit der
nothwendigen Tendenz, als Reich Gottes die allgemeine Kirche zu werdem nu>V
sie die Fähigkeit verbinden, auf dem Boden des Rechts alle andern Glauben^
formen, auch die sie innerlich verdammt, neben sich zu ertragen.

Drittens: wenn es auch eine unsinnige Anforderung wäre!, für jedes Gefuy
in ihr Befriedigung zu verlangen, so muß sie doch wenigstens dem individuellen
Gefühl die Möglichkeit geben, sich geltend zu machen/ Wir sind der festen Ueber¬
zeugung, daß der Protestantismus, ohne von seinem Gehalt etwas einzubüßen-
eine Reform des Cultus zuläßt, welche nicht blos eine größere, sondern auch
eine gemüthlichere Theilnahme der Einzelnen ermöglicht. Wenn man diesen
sichtspunkt festhält, so wird man auch die schwierigste Frage übet den innige^
Zusammenhang der Kirche mit der Kunst nicht für unlösbar halten.n

Es gibt kein kräftigeres. kein tiefer die Seele ergreifendes Mittel, de
innern Zusammenhang der Seele darzustellen, als die Kirche. Daß dieser A
sammenhang in der Gegenwart äußerst wenig hervortritt, daran hat ste>^
die materialistische Richtung unsers Zeitalters einige Schuld, aber bei weüe"'
nicht alle. Freilich war es früher eine bei weitem gemüthlichere Einrichtung, ^
die Kirchhöfe zugleich die Friedhöfe waren und daß man sich bei jedem ^
tritt in die Kirche der lieben Todten erinnerte; freilich hat der sanitätische
sichtspunkt, der beide voneinander trennt, dieser Gemüthlichkeit vielen Ubbo^
gethan. Aber solche Außendinge sind doch nicht die Hauptsache. Die Ha»p'


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/150>, abgerufen am 14.06.2024.