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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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aber Thatsache isis, daß die Behörden, seitdem sie den Nmtsuntcrricht erhalten, bis
jetzt nur die Ansicht ausgesprochen haben: alle Studirenden an ausländischen Un-
terrichtsanstnltcn seien als solche militärpflichtig.

Die Grundgesetze der evangelischen Kirche in Ungarn und Siebenbürgen fordern
daher gebieterisch eine Abänderung der ihnen widerstreitenden, im k. Patent über
die Ergänzung des Heeres ohnehin nicht begründeten, beschränkenden Vorschrift des
Amtsuntcrrichtcs. Die Abänderung dieser beschränkenden Bestimmung, welche einem
der heutigen vaterländischen Gesetzgebung offenbar zuwiderlaufenden Verbot der
deutschen Universitäten gleichkommt, fordert aber nicht nur das Recht und das Inter¬
esse der evangelischen Kirche Oestreichs; es fordert sie auch das gcsannnte Cultur-
lcbcn Neuöstrcichs, welches die langjährige, künstliche Absperrung von der geistigen
Entwicklung Deutschlands nur zu sehr hat entgelten müssen; es fordert sie nament¬
lich die Wissenschaft in Oestreich, die, wie der Minister für Cultus und Unterricht
vor kurzem in dem wiener Sophiensaal mit beredten Worten ausgesprochen, fortan
mit der geistigen Forschung in den übrigen deutschen Bundeslanden Hand in Hand
gehen soll.




Noch einmal die freien Gemeinden.

Auf den Aufsatz "Der Protestantismus und das Lnicnthum" in unserm Neu-
jahrshcft ist in der "Königsberger Sonntagspost" eine Entgegnung erfolgt. Auf
die Verdrehungen derselben im Einzelnen einzugehen, wäre überflüssig; wir erinnern
nur an den doppelten Gesichtspunkt, von dem wir ausgingen.

Was den Staat betrifft, so halten wir es für unstatthaft, daß er sich in
Privatangelegenheiten einmischt, so lange sie nicht in das Gebiet der Criminaljustiz
übergreifen. Shcckcr, Methodisten, Quäker, Jrvingiancr, pietistische Conventikel,
freie Gemeinden -- das alles geht ihn nichts an, so lange seine Gesetze nicht über¬
treten werden.

Was dagegen das Publicum betrifft, so halten wir seine völlige Gleichgiltig-
keit gegen die "freien Gemeinden" für gerechtfertigt. Wir bestreiten nicht das locale
Bedürfniß solcher Institute; es ist dasselbe Bedürfniß, das vor zwei Generationen
die Conventikel hervorbrachte. Weiche Gemüther, schöne Seelen u. s. w. haben
das Bedürfniß einer intensiverer Erbauung, als ihnen die Kirche, namentlich die
Protestantische Kirche bietet, die das Weib zum Schweigen verurtheilt. Die moder¬
nen "aufgeklärten" Conventikel sind viel weniger fratzenhaft als die alten. -- Fra¬
tzenhaft bleiben sie aber doch, sobald sie sich für ein geschichtliches Culturmomcnt
ausgeben, und der Vergleich mit der Reformation macht einen widerlichen Eindruck.
-- Sie sind nicht der Beginn einer neuen Zeit, sondern der Rest des alten Indivi¬
dualismus, den wir allmälig überwinden lernen. -- Wenn vor fünfzig Jahrcr
Zacharias Werner, oder Bettina, oder Nadel, oder die Schriftsteller des Athenäums
von einer neuen Religion träumten, die Herz, Geist und Einbildungskraft gleichmütig


aber Thatsache isis, daß die Behörden, seitdem sie den Nmtsuntcrricht erhalten, bis
jetzt nur die Ansicht ausgesprochen haben: alle Studirenden an ausländischen Un-
terrichtsanstnltcn seien als solche militärpflichtig.

Die Grundgesetze der evangelischen Kirche in Ungarn und Siebenbürgen fordern
daher gebieterisch eine Abänderung der ihnen widerstreitenden, im k. Patent über
die Ergänzung des Heeres ohnehin nicht begründeten, beschränkenden Vorschrift des
Amtsuntcrrichtcs. Die Abänderung dieser beschränkenden Bestimmung, welche einem
der heutigen vaterländischen Gesetzgebung offenbar zuwiderlaufenden Verbot der
deutschen Universitäten gleichkommt, fordert aber nicht nur das Recht und das Inter¬
esse der evangelischen Kirche Oestreichs; es fordert sie auch das gcsannnte Cultur-
lcbcn Neuöstrcichs, welches die langjährige, künstliche Absperrung von der geistigen
Entwicklung Deutschlands nur zu sehr hat entgelten müssen; es fordert sie nament¬
lich die Wissenschaft in Oestreich, die, wie der Minister für Cultus und Unterricht
vor kurzem in dem wiener Sophiensaal mit beredten Worten ausgesprochen, fortan
mit der geistigen Forschung in den übrigen deutschen Bundeslanden Hand in Hand
gehen soll.




Noch einmal die freien Gemeinden.

Auf den Aufsatz „Der Protestantismus und das Lnicnthum" in unserm Neu-
jahrshcft ist in der „Königsberger Sonntagspost" eine Entgegnung erfolgt. Auf
die Verdrehungen derselben im Einzelnen einzugehen, wäre überflüssig; wir erinnern
nur an den doppelten Gesichtspunkt, von dem wir ausgingen.

Was den Staat betrifft, so halten wir es für unstatthaft, daß er sich in
Privatangelegenheiten einmischt, so lange sie nicht in das Gebiet der Criminaljustiz
übergreifen. Shcckcr, Methodisten, Quäker, Jrvingiancr, pietistische Conventikel,
freie Gemeinden — das alles geht ihn nichts an, so lange seine Gesetze nicht über¬
treten werden.

Was dagegen das Publicum betrifft, so halten wir seine völlige Gleichgiltig-
keit gegen die „freien Gemeinden" für gerechtfertigt. Wir bestreiten nicht das locale
Bedürfniß solcher Institute; es ist dasselbe Bedürfniß, das vor zwei Generationen
die Conventikel hervorbrachte. Weiche Gemüther, schöne Seelen u. s. w. haben
das Bedürfniß einer intensiverer Erbauung, als ihnen die Kirche, namentlich die
Protestantische Kirche bietet, die das Weib zum Schweigen verurtheilt. Die moder¬
nen „aufgeklärten" Conventikel sind viel weniger fratzenhaft als die alten. — Fra¬
tzenhaft bleiben sie aber doch, sobald sie sich für ein geschichtliches Culturmomcnt
ausgeben, und der Vergleich mit der Reformation macht einen widerlichen Eindruck.
— Sie sind nicht der Beginn einer neuen Zeit, sondern der Rest des alten Indivi¬
dualismus, den wir allmälig überwinden lernen. — Wenn vor fünfzig Jahrcr
Zacharias Werner, oder Bettina, oder Nadel, oder die Schriftsteller des Athenäums
von einer neuen Religion träumten, die Herz, Geist und Einbildungskraft gleichmütig


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[0527] aber Thatsache isis, daß die Behörden, seitdem sie den Nmtsuntcrricht erhalten, bis jetzt nur die Ansicht ausgesprochen haben: alle Studirenden an ausländischen Un- terrichtsanstnltcn seien als solche militärpflichtig. Die Grundgesetze der evangelischen Kirche in Ungarn und Siebenbürgen fordern daher gebieterisch eine Abänderung der ihnen widerstreitenden, im k. Patent über die Ergänzung des Heeres ohnehin nicht begründeten, beschränkenden Vorschrift des Amtsuntcrrichtcs. Die Abänderung dieser beschränkenden Bestimmung, welche einem der heutigen vaterländischen Gesetzgebung offenbar zuwiderlaufenden Verbot der deutschen Universitäten gleichkommt, fordert aber nicht nur das Recht und das Inter¬ esse der evangelischen Kirche Oestreichs; es fordert sie auch das gcsannnte Cultur- lcbcn Neuöstrcichs, welches die langjährige, künstliche Absperrung von der geistigen Entwicklung Deutschlands nur zu sehr hat entgelten müssen; es fordert sie nament¬ lich die Wissenschaft in Oestreich, die, wie der Minister für Cultus und Unterricht vor kurzem in dem wiener Sophiensaal mit beredten Worten ausgesprochen, fortan mit der geistigen Forschung in den übrigen deutschen Bundeslanden Hand in Hand gehen soll. Noch einmal die freien Gemeinden. Auf den Aufsatz „Der Protestantismus und das Lnicnthum" in unserm Neu- jahrshcft ist in der „Königsberger Sonntagspost" eine Entgegnung erfolgt. Auf die Verdrehungen derselben im Einzelnen einzugehen, wäre überflüssig; wir erinnern nur an den doppelten Gesichtspunkt, von dem wir ausgingen. Was den Staat betrifft, so halten wir es für unstatthaft, daß er sich in Privatangelegenheiten einmischt, so lange sie nicht in das Gebiet der Criminaljustiz übergreifen. Shcckcr, Methodisten, Quäker, Jrvingiancr, pietistische Conventikel, freie Gemeinden — das alles geht ihn nichts an, so lange seine Gesetze nicht über¬ treten werden. Was dagegen das Publicum betrifft, so halten wir seine völlige Gleichgiltig- keit gegen die „freien Gemeinden" für gerechtfertigt. Wir bestreiten nicht das locale Bedürfniß solcher Institute; es ist dasselbe Bedürfniß, das vor zwei Generationen die Conventikel hervorbrachte. Weiche Gemüther, schöne Seelen u. s. w. haben das Bedürfniß einer intensiverer Erbauung, als ihnen die Kirche, namentlich die Protestantische Kirche bietet, die das Weib zum Schweigen verurtheilt. Die moder¬ nen „aufgeklärten" Conventikel sind viel weniger fratzenhaft als die alten. — Fra¬ tzenhaft bleiben sie aber doch, sobald sie sich für ein geschichtliches Culturmomcnt ausgeben, und der Vergleich mit der Reformation macht einen widerlichen Eindruck. — Sie sind nicht der Beginn einer neuen Zeit, sondern der Rest des alten Indivi¬ dualismus, den wir allmälig überwinden lernen. — Wenn vor fünfzig Jahrcr Zacharias Werner, oder Bettina, oder Nadel, oder die Schriftsteller des Athenäums von einer neuen Religion träumten, die Herz, Geist und Einbildungskraft gleichmütig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/527>, abgerufen am 15.06.2024.