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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Es ist nicht unmöglich, daß die gegenwärtig CouUnnation dem Kaiser
Savoyen verschafft; es ist wahrscheinlich, daß diese friedliche Erwerbung der
Anfang von neuen Allianzen gegen Frankreich sein würde. Die erste Quad-
ratmeile Land, welche der Kaiser für sich selbst nimmt, wird alles Mißtrauen
der Völker, die geheime Furcht der Kabinette ärger als je gegen ihn empören.
Niemand kennt besser die Schwäche der gegenwärtigen Regierungen Europas,
als der Kaiser selbst. Aber er sollte sich hüten, die Schwäche der Kabinette auch
für eine dauernde politische Schwäche der Nationen zu halten. Mögen die Eng¬
länder für sich selbst sprechen; wir Deutschen über wissen, daß da's Verständ¬
niß unserer Lage im Volk so weit herausgebildet ist, und daß eS bei uns nur
einer lange anhaltenden gefährlichen Situation bedarf, um an die Stelle der
Unentschlossenheit und Zerfahrenheit feste patriotische Kraft zu sehen. --

Die Vereinigung Savoyens mit Frankreich würde zunächst die Schweiz
in eine Lage bringen, deren Gefahren nicht stark genug betont werden können.
Das ganze Becken des Genfersees füllt durch solche Einverleibungen die
Machtsphäre Frankreichs. Genf wird von da an nur noch eine Schweizer Stadt
heißen, nicht mehr sein. Schon jetzt ist der natürliche Druck, welchen Frank¬
reich auf den Bund ausübt, so groß, daß es aller patriotischen Kraft des
Bundesraths bedarf, ihm ohne Feindseligkeit zu widerstehen. Fortan wäre die
Schweiz ein Vasall Frankreichs.

Und nicht unnütz ist die gemüthliche Frage: wozu das? In der Schweiz,
auch in dein französisch redenden Theile der Bevölkerung, hat sich seit Jahr¬
hunderten, die nicht arm an glorreichen Erinnerungen sind, ein sclbststündiges,
kräftiges Leben, ein Gefühl bürgerlicher Kraft und Tüchtigkeit, ja auch ein
eigener Glaube, und aus allem dem eine eigenthümliche Nationalität gebildet,
welche das höchste Recht hat, von ihren Nachbarn Achtung und Anerkennung
zu fordern. Wie unerfreulich einzelne politische Lebensäußerungen der jüngsten
Zeit gerade in diesen Gegenden sein mögen, sie haben dem Auslande uicht
geschadet; es ist sicher zu hoffen, daß sie durch Bildung und Volkskraft über¬
wunden werden, wie sie an andern Orten überwunden sind. Welchen wahr¬
haften Gewinn hat Frankreich, ein nationales Leben zu zerstören, welches in
seiner Entwickelung im Ganzen so weit fortgeschritten ist, daß es oft eine Er¬
gänzung und Bereicherung des französischen wurde. Solche Usurpationsgelüste
wären ein mittelalterlicher Unsinn und brächten, wenn sie zu Erfolgen führten,
nicht Ehre und Gewinn, sondern Schande und sehr reale Verluste mit sich.

Sicher ist. daß die Schweiz Alles anwenden wird, solche erstickende Um¬
armung von sich abzuhalten. Freilich kann ihr Widerstand zunächst nur ein
diplomatischer sein. Aber der Kaiser ist vorsichtig. Er wird sich hüten, laute
Klagen der Schweiz zu veranlassen. Schon wissen französische Blätter, daß
auch der Schweiz diese Besitzveränderung einen Zuwachs schaffen solle: den


21*

Es ist nicht unmöglich, daß die gegenwärtig CouUnnation dem Kaiser
Savoyen verschafft; es ist wahrscheinlich, daß diese friedliche Erwerbung der
Anfang von neuen Allianzen gegen Frankreich sein würde. Die erste Quad-
ratmeile Land, welche der Kaiser für sich selbst nimmt, wird alles Mißtrauen
der Völker, die geheime Furcht der Kabinette ärger als je gegen ihn empören.
Niemand kennt besser die Schwäche der gegenwärtigen Regierungen Europas,
als der Kaiser selbst. Aber er sollte sich hüten, die Schwäche der Kabinette auch
für eine dauernde politische Schwäche der Nationen zu halten. Mögen die Eng¬
länder für sich selbst sprechen; wir Deutschen über wissen, daß da's Verständ¬
niß unserer Lage im Volk so weit herausgebildet ist, und daß eS bei uns nur
einer lange anhaltenden gefährlichen Situation bedarf, um an die Stelle der
Unentschlossenheit und Zerfahrenheit feste patriotische Kraft zu sehen. —

Die Vereinigung Savoyens mit Frankreich würde zunächst die Schweiz
in eine Lage bringen, deren Gefahren nicht stark genug betont werden können.
Das ganze Becken des Genfersees füllt durch solche Einverleibungen die
Machtsphäre Frankreichs. Genf wird von da an nur noch eine Schweizer Stadt
heißen, nicht mehr sein. Schon jetzt ist der natürliche Druck, welchen Frank¬
reich auf den Bund ausübt, so groß, daß es aller patriotischen Kraft des
Bundesraths bedarf, ihm ohne Feindseligkeit zu widerstehen. Fortan wäre die
Schweiz ein Vasall Frankreichs.

Und nicht unnütz ist die gemüthliche Frage: wozu das? In der Schweiz,
auch in dein französisch redenden Theile der Bevölkerung, hat sich seit Jahr¬
hunderten, die nicht arm an glorreichen Erinnerungen sind, ein sclbststündiges,
kräftiges Leben, ein Gefühl bürgerlicher Kraft und Tüchtigkeit, ja auch ein
eigener Glaube, und aus allem dem eine eigenthümliche Nationalität gebildet,
welche das höchste Recht hat, von ihren Nachbarn Achtung und Anerkennung
zu fordern. Wie unerfreulich einzelne politische Lebensäußerungen der jüngsten
Zeit gerade in diesen Gegenden sein mögen, sie haben dem Auslande uicht
geschadet; es ist sicher zu hoffen, daß sie durch Bildung und Volkskraft über¬
wunden werden, wie sie an andern Orten überwunden sind. Welchen wahr¬
haften Gewinn hat Frankreich, ein nationales Leben zu zerstören, welches in
seiner Entwickelung im Ganzen so weit fortgeschritten ist, daß es oft eine Er¬
gänzung und Bereicherung des französischen wurde. Solche Usurpationsgelüste
wären ein mittelalterlicher Unsinn und brächten, wenn sie zu Erfolgen führten,
nicht Ehre und Gewinn, sondern Schande und sehr reale Verluste mit sich.

Sicher ist. daß die Schweiz Alles anwenden wird, solche erstickende Um¬
armung von sich abzuhalten. Freilich kann ihr Widerstand zunächst nur ein
diplomatischer sein. Aber der Kaiser ist vorsichtig. Er wird sich hüten, laute
Klagen der Schweiz zu veranlassen. Schon wissen französische Blätter, daß
auch der Schweiz diese Besitzveränderung einen Zuwachs schaffen solle: den


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[0175] Es ist nicht unmöglich, daß die gegenwärtig CouUnnation dem Kaiser Savoyen verschafft; es ist wahrscheinlich, daß diese friedliche Erwerbung der Anfang von neuen Allianzen gegen Frankreich sein würde. Die erste Quad- ratmeile Land, welche der Kaiser für sich selbst nimmt, wird alles Mißtrauen der Völker, die geheime Furcht der Kabinette ärger als je gegen ihn empören. Niemand kennt besser die Schwäche der gegenwärtigen Regierungen Europas, als der Kaiser selbst. Aber er sollte sich hüten, die Schwäche der Kabinette auch für eine dauernde politische Schwäche der Nationen zu halten. Mögen die Eng¬ länder für sich selbst sprechen; wir Deutschen über wissen, daß da's Verständ¬ niß unserer Lage im Volk so weit herausgebildet ist, und daß eS bei uns nur einer lange anhaltenden gefährlichen Situation bedarf, um an die Stelle der Unentschlossenheit und Zerfahrenheit feste patriotische Kraft zu sehen. — Die Vereinigung Savoyens mit Frankreich würde zunächst die Schweiz in eine Lage bringen, deren Gefahren nicht stark genug betont werden können. Das ganze Becken des Genfersees füllt durch solche Einverleibungen die Machtsphäre Frankreichs. Genf wird von da an nur noch eine Schweizer Stadt heißen, nicht mehr sein. Schon jetzt ist der natürliche Druck, welchen Frank¬ reich auf den Bund ausübt, so groß, daß es aller patriotischen Kraft des Bundesraths bedarf, ihm ohne Feindseligkeit zu widerstehen. Fortan wäre die Schweiz ein Vasall Frankreichs. Und nicht unnütz ist die gemüthliche Frage: wozu das? In der Schweiz, auch in dein französisch redenden Theile der Bevölkerung, hat sich seit Jahr¬ hunderten, die nicht arm an glorreichen Erinnerungen sind, ein sclbststündiges, kräftiges Leben, ein Gefühl bürgerlicher Kraft und Tüchtigkeit, ja auch ein eigener Glaube, und aus allem dem eine eigenthümliche Nationalität gebildet, welche das höchste Recht hat, von ihren Nachbarn Achtung und Anerkennung zu fordern. Wie unerfreulich einzelne politische Lebensäußerungen der jüngsten Zeit gerade in diesen Gegenden sein mögen, sie haben dem Auslande uicht geschadet; es ist sicher zu hoffen, daß sie durch Bildung und Volkskraft über¬ wunden werden, wie sie an andern Orten überwunden sind. Welchen wahr¬ haften Gewinn hat Frankreich, ein nationales Leben zu zerstören, welches in seiner Entwickelung im Ganzen so weit fortgeschritten ist, daß es oft eine Er¬ gänzung und Bereicherung des französischen wurde. Solche Usurpationsgelüste wären ein mittelalterlicher Unsinn und brächten, wenn sie zu Erfolgen führten, nicht Ehre und Gewinn, sondern Schande und sehr reale Verluste mit sich. Sicher ist. daß die Schweiz Alles anwenden wird, solche erstickende Um¬ armung von sich abzuhalten. Freilich kann ihr Widerstand zunächst nur ein diplomatischer sein. Aber der Kaiser ist vorsichtig. Er wird sich hüten, laute Klagen der Schweiz zu veranlassen. Schon wissen französische Blätter, daß auch der Schweiz diese Besitzveränderung einen Zuwachs schaffen solle: den 21*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/175>, abgerufen am 04.06.2024.