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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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von der Christenthum und Naturkultus die beiden Brennpunkte bilden. Goethe
sing mit der Bibel und dem Verkehr mit den Frommen an. bis seine Wahr¬
heitsliebe ihn von den alten Freunden entfernte; die Physik und die Antike
gaben ihm eine künstlerische Religion und machten ihn, da er vom Christen¬
thum nur die Ideen Lavaters, des Fräuleins von Klettcnberg u. s. w. im
Auge hatte, zu einem Feinde des Christenthums, bis er im Alter für alle
Dinge eine symbolische Anschauung fand und so auch dem christlichen System
eine ganz artige Auslegung gab. Bei den Andern tritt dieses Schwanken
noch hastiger, unruhiger, leidenschaftlicher hervor. Wer darüber ungehalten
ist, der möge daran denken, daß in jener des Katechismus weniger kundigen
Periode das religiöse Gefühl, d. h. die Sehnsucht nach Religion, sich viel
unruhiger, hastiger und leidenschaftlicher aussprechen mußte, weil ihm in den
positiven Zuständen, in dem wirklichen Leben des Volks ein viel schwächerer
Widerhalt geboten war. Man hat es gern, wenn der Schriftsteller vom Be¬
ginn bis zum Schluß seiner Wirksamkeit eine gewisse Stetigkeit seiner An¬
sichten entwickelt, wenn er wenigstens immer zum Bessern fortschreitet: jede
Abweichung von der graden Linie, jeden Rückfall empfindet man mit Verdruß;
und so sind namentlich unsre Classiker übel daran, deren Briefe bis auf den
kleinsten Fetzen veröffentlicht werden. Was wird in diesen Briefen nicht Alles
behauptet und widerrufen! Es ist als ob sie gar nicht die nöthige Rücksicht
auf die Nachwelt genommen hätten und auf das wohlbegründete Bedürfniß
derselben, von ihnen ein einheitliches, harmonisches Bild zu haben! Am em¬
pfindlichsten scheint das in religiösen Dingen: in der Politik ist man schon
nachsichtiger, da hier die Umstände einem augenscheinlichen Wechsel ausgesetzt
sind, während Gott immer in der Mitte stehen bleibt. Wer aber über die
religiöse Inconsequenz zu streng urtheilen wollte, der möge folgendes er¬
wägen.

Es gibt in Bezug auf religiöse Dinge eine zwiefache Resignation. Die
Einen schneiden alle Zweifel und quälenden Fragen des Herzens durch die
sehr verständige Betrachtung ab, daß man darüber doch nichts gründliches
erfahren könne, daß kein Mensch im Stande sei, sich den Gesetzen der Natur
zu entziehn, und daß Fragen, bei denen man auf keine Antwort. Ahnungen
und Wünsche, bei denen man auf keine Erledigung rechnen könne, ein todtes
Kapital seien. Der Mensch habe für seine irdischen Bedürfnisse genug zu thun,
über die himmlischen könne er nur grübeln, und das könne er ebenso gut unter¬
lassen. -- Die andern unterwerfen sich dem Katechismus einer beliebigen
Kirche, und da hier in der Form von Frage und Antwort alle möglichen
Dinge erörtert sind, so glauben sie damit ihrer Pflicht völlig Genüge gethan
zu haben. Die Anhänger einer dogmatischen Philosophie machen es nicht
viel anders als die Theologen, und es ist noch gar nicht so lange her, daß


von der Christenthum und Naturkultus die beiden Brennpunkte bilden. Goethe
sing mit der Bibel und dem Verkehr mit den Frommen an. bis seine Wahr¬
heitsliebe ihn von den alten Freunden entfernte; die Physik und die Antike
gaben ihm eine künstlerische Religion und machten ihn, da er vom Christen¬
thum nur die Ideen Lavaters, des Fräuleins von Klettcnberg u. s. w. im
Auge hatte, zu einem Feinde des Christenthums, bis er im Alter für alle
Dinge eine symbolische Anschauung fand und so auch dem christlichen System
eine ganz artige Auslegung gab. Bei den Andern tritt dieses Schwanken
noch hastiger, unruhiger, leidenschaftlicher hervor. Wer darüber ungehalten
ist, der möge daran denken, daß in jener des Katechismus weniger kundigen
Periode das religiöse Gefühl, d. h. die Sehnsucht nach Religion, sich viel
unruhiger, hastiger und leidenschaftlicher aussprechen mußte, weil ihm in den
positiven Zuständen, in dem wirklichen Leben des Volks ein viel schwächerer
Widerhalt geboten war. Man hat es gern, wenn der Schriftsteller vom Be¬
ginn bis zum Schluß seiner Wirksamkeit eine gewisse Stetigkeit seiner An¬
sichten entwickelt, wenn er wenigstens immer zum Bessern fortschreitet: jede
Abweichung von der graden Linie, jeden Rückfall empfindet man mit Verdruß;
und so sind namentlich unsre Classiker übel daran, deren Briefe bis auf den
kleinsten Fetzen veröffentlicht werden. Was wird in diesen Briefen nicht Alles
behauptet und widerrufen! Es ist als ob sie gar nicht die nöthige Rücksicht
auf die Nachwelt genommen hätten und auf das wohlbegründete Bedürfniß
derselben, von ihnen ein einheitliches, harmonisches Bild zu haben! Am em¬
pfindlichsten scheint das in religiösen Dingen: in der Politik ist man schon
nachsichtiger, da hier die Umstände einem augenscheinlichen Wechsel ausgesetzt
sind, während Gott immer in der Mitte stehen bleibt. Wer aber über die
religiöse Inconsequenz zu streng urtheilen wollte, der möge folgendes er¬
wägen.

Es gibt in Bezug auf religiöse Dinge eine zwiefache Resignation. Die
Einen schneiden alle Zweifel und quälenden Fragen des Herzens durch die
sehr verständige Betrachtung ab, daß man darüber doch nichts gründliches
erfahren könne, daß kein Mensch im Stande sei, sich den Gesetzen der Natur
zu entziehn, und daß Fragen, bei denen man auf keine Antwort. Ahnungen
und Wünsche, bei denen man auf keine Erledigung rechnen könne, ein todtes
Kapital seien. Der Mensch habe für seine irdischen Bedürfnisse genug zu thun,
über die himmlischen könne er nur grübeln, und das könne er ebenso gut unter¬
lassen. — Die andern unterwerfen sich dem Katechismus einer beliebigen
Kirche, und da hier in der Form von Frage und Antwort alle möglichen
Dinge erörtert sind, so glauben sie damit ihrer Pflicht völlig Genüge gethan
zu haben. Die Anhänger einer dogmatischen Philosophie machen es nicht
viel anders als die Theologen, und es ist noch gar nicht so lange her, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/22>, abgerufen am 14.05.2024.