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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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die Hegelianer so gut als die Katholiken und Lutheraner einen ehrlichen
Menschen in Verzweiflung setzten, wenn sie ihm über Dinge, über die er trotz
ernsten Forschens keine Klarheit gewonnen, den bündigsten Bescheid ertheilten.

Solche Resignation ist nicht zu tadeln, sie befördert wesentlich die Zu¬
friedenheit des Menschen, und es ist auch für den Charakter vortheilhaft, wenn
man bei einem bestimmten Lebensabschnitt unter seine Untersuchungen einen
Strich machen kann, um davon nickt weiter gestört zu werden. Wer aber
die Qual solcher Fragen niemals empfunden, wen es niemals schmerzlich er¬
griffen und im innersten erschüttert hat, den Freiheitstrieb mit dem Naturgesetz,
die Macht des Gefühls mit der Wirklichkeit, die Sehnsucht nach dem Voll¬
endeten mit den Schranken des Endlichen, den Willen des Lebens mit der
Nothwendigkeit des Todes in Widerspruch zu sehen; wer diese Sehnsucht nach
dem Unbegreiflichen entweder nie gefühlt, oder sie durch die Artikel einer
bestimmten Konfession völlig befriedigt hat: der ist im Ganzen mehr zu be¬
neiden als nachzuahmen, denn es verräth eine gewisse Schwäche der Empfin¬
dung. Daß uns Neuern die Qual solcher Gedanken viel weniger empfindlich
wird, ist mehr Glück als Verdienst; denn unser Leben ist besser und gesunder,
als das Leben, aus welchem vor einem Jahrhundert so beklommne Seufzer
zum Himmel aufstiegen.

Wenn man in der Glnubensphilosophie eine religiöse Reaktion finden
will, so darf man sie wenigstens nicht mit der alten Orthodoxie in Verbin¬
dung setzen. Die Glaubensphilosophie entsprang aus einem freilich unklaren
Freiheitstrieb, während die Rechtgläubigkeit aller Freiheit Feind war; sie ging
aus eiuer starken umfassenden Bildung hervor, während jene sich in die vor-
nirtesten Vorurtheile verrannt hatte; sie quoll über vor Liebe und Empfin¬
dung, während die alten Zeloten kein anderes Gefühl kannten, als Haß gegen
die Andersgläubigen" Wenn man z. B. in den Briefen zwischen Hamann
und Jakobi liest, wie verächtlich sie sich über den Hamburger "Oelzötzen" aus¬
sprechen und wie sehr sie geneigt waren, für Lessing Partei zu nehmen, so
wird man ihnen nicht die Schmach anthun, sie mit jenem in eine Klasse zu
werfen. Es gibt von der damaligen Orthodoxie kein ansprechenderes
Bild, als Gellerts Erzählung: Die Bauern und der Amtmann. Wenn die
Bauern sagen, der verstorbene Herr Pfarrer, das war ein andrer Mann, er
hat fleißig die Ketzer abgekanzelt, die Kirchenväter griechisch und lateinisch ci-
tirt "und stets so fein schcmatisiret, daß er der Bauern Herz gerühret": so ist
das ebenso charakteristisch für die Haltung dieser Pastoren, als der Ausgang
der Fabel für die Wurzeln. die sie im Lande geschlagen hatten. "Ihr Ochsen,
die ihr alle seid! euch Flegeln geb ich den Bescheid, ihr sollt den Herrn zu
eurem Pfarr' behalten. Sagt, wollt ihr oder nicht?" Womit denn die christ¬
liche Gemeinde vollkommen einverstanden ist. Donnerworte gegen die Ketzer,


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die Hegelianer so gut als die Katholiken und Lutheraner einen ehrlichen
Menschen in Verzweiflung setzten, wenn sie ihm über Dinge, über die er trotz
ernsten Forschens keine Klarheit gewonnen, den bündigsten Bescheid ertheilten.

Solche Resignation ist nicht zu tadeln, sie befördert wesentlich die Zu¬
friedenheit des Menschen, und es ist auch für den Charakter vortheilhaft, wenn
man bei einem bestimmten Lebensabschnitt unter seine Untersuchungen einen
Strich machen kann, um davon nickt weiter gestört zu werden. Wer aber
die Qual solcher Fragen niemals empfunden, wen es niemals schmerzlich er¬
griffen und im innersten erschüttert hat, den Freiheitstrieb mit dem Naturgesetz,
die Macht des Gefühls mit der Wirklichkeit, die Sehnsucht nach dem Voll¬
endeten mit den Schranken des Endlichen, den Willen des Lebens mit der
Nothwendigkeit des Todes in Widerspruch zu sehen; wer diese Sehnsucht nach
dem Unbegreiflichen entweder nie gefühlt, oder sie durch die Artikel einer
bestimmten Konfession völlig befriedigt hat: der ist im Ganzen mehr zu be¬
neiden als nachzuahmen, denn es verräth eine gewisse Schwäche der Empfin¬
dung. Daß uns Neuern die Qual solcher Gedanken viel weniger empfindlich
wird, ist mehr Glück als Verdienst; denn unser Leben ist besser und gesunder,
als das Leben, aus welchem vor einem Jahrhundert so beklommne Seufzer
zum Himmel aufstiegen.

Wenn man in der Glnubensphilosophie eine religiöse Reaktion finden
will, so darf man sie wenigstens nicht mit der alten Orthodoxie in Verbin¬
dung setzen. Die Glaubensphilosophie entsprang aus einem freilich unklaren
Freiheitstrieb, während die Rechtgläubigkeit aller Freiheit Feind war; sie ging
aus eiuer starken umfassenden Bildung hervor, während jene sich in die vor-
nirtesten Vorurtheile verrannt hatte; sie quoll über vor Liebe und Empfin¬
dung, während die alten Zeloten kein anderes Gefühl kannten, als Haß gegen
die Andersgläubigen» Wenn man z. B. in den Briefen zwischen Hamann
und Jakobi liest, wie verächtlich sie sich über den Hamburger „Oelzötzen" aus¬
sprechen und wie sehr sie geneigt waren, für Lessing Partei zu nehmen, so
wird man ihnen nicht die Schmach anthun, sie mit jenem in eine Klasse zu
werfen. Es gibt von der damaligen Orthodoxie kein ansprechenderes
Bild, als Gellerts Erzählung: Die Bauern und der Amtmann. Wenn die
Bauern sagen, der verstorbene Herr Pfarrer, das war ein andrer Mann, er
hat fleißig die Ketzer abgekanzelt, die Kirchenväter griechisch und lateinisch ci-
tirt „und stets so fein schcmatisiret, daß er der Bauern Herz gerühret": so ist
das ebenso charakteristisch für die Haltung dieser Pastoren, als der Ausgang
der Fabel für die Wurzeln. die sie im Lande geschlagen hatten. „Ihr Ochsen,
die ihr alle seid! euch Flegeln geb ich den Bescheid, ihr sollt den Herrn zu
eurem Pfarr' behalten. Sagt, wollt ihr oder nicht?" Womit denn die christ¬
liche Gemeinde vollkommen einverstanden ist. Donnerworte gegen die Ketzer,


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[0023] die Hegelianer so gut als die Katholiken und Lutheraner einen ehrlichen Menschen in Verzweiflung setzten, wenn sie ihm über Dinge, über die er trotz ernsten Forschens keine Klarheit gewonnen, den bündigsten Bescheid ertheilten. Solche Resignation ist nicht zu tadeln, sie befördert wesentlich die Zu¬ friedenheit des Menschen, und es ist auch für den Charakter vortheilhaft, wenn man bei einem bestimmten Lebensabschnitt unter seine Untersuchungen einen Strich machen kann, um davon nickt weiter gestört zu werden. Wer aber die Qual solcher Fragen niemals empfunden, wen es niemals schmerzlich er¬ griffen und im innersten erschüttert hat, den Freiheitstrieb mit dem Naturgesetz, die Macht des Gefühls mit der Wirklichkeit, die Sehnsucht nach dem Voll¬ endeten mit den Schranken des Endlichen, den Willen des Lebens mit der Nothwendigkeit des Todes in Widerspruch zu sehen; wer diese Sehnsucht nach dem Unbegreiflichen entweder nie gefühlt, oder sie durch die Artikel einer bestimmten Konfession völlig befriedigt hat: der ist im Ganzen mehr zu be¬ neiden als nachzuahmen, denn es verräth eine gewisse Schwäche der Empfin¬ dung. Daß uns Neuern die Qual solcher Gedanken viel weniger empfindlich wird, ist mehr Glück als Verdienst; denn unser Leben ist besser und gesunder, als das Leben, aus welchem vor einem Jahrhundert so beklommne Seufzer zum Himmel aufstiegen. Wenn man in der Glnubensphilosophie eine religiöse Reaktion finden will, so darf man sie wenigstens nicht mit der alten Orthodoxie in Verbin¬ dung setzen. Die Glaubensphilosophie entsprang aus einem freilich unklaren Freiheitstrieb, während die Rechtgläubigkeit aller Freiheit Feind war; sie ging aus eiuer starken umfassenden Bildung hervor, während jene sich in die vor- nirtesten Vorurtheile verrannt hatte; sie quoll über vor Liebe und Empfin¬ dung, während die alten Zeloten kein anderes Gefühl kannten, als Haß gegen die Andersgläubigen» Wenn man z. B. in den Briefen zwischen Hamann und Jakobi liest, wie verächtlich sie sich über den Hamburger „Oelzötzen" aus¬ sprechen und wie sehr sie geneigt waren, für Lessing Partei zu nehmen, so wird man ihnen nicht die Schmach anthun, sie mit jenem in eine Klasse zu werfen. Es gibt von der damaligen Orthodoxie kein ansprechenderes Bild, als Gellerts Erzählung: Die Bauern und der Amtmann. Wenn die Bauern sagen, der verstorbene Herr Pfarrer, das war ein andrer Mann, er hat fleißig die Ketzer abgekanzelt, die Kirchenväter griechisch und lateinisch ci- tirt „und stets so fein schcmatisiret, daß er der Bauern Herz gerühret": so ist das ebenso charakteristisch für die Haltung dieser Pastoren, als der Ausgang der Fabel für die Wurzeln. die sie im Lande geschlagen hatten. „Ihr Ochsen, die ihr alle seid! euch Flegeln geb ich den Bescheid, ihr sollt den Herrn zu eurem Pfarr' behalten. Sagt, wollt ihr oder nicht?" Womit denn die christ¬ liche Gemeinde vollkommen einverstanden ist. Donnerworte gegen die Ketzer, 2*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/23>, abgerufen am 15.05.2024.