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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Untertänigkeit gegen den Herrn Ayitmann: .diese Art von Kirchenthum zurück¬
zuführen, lag nicht in der Absicht der Glaubensphilosophen.

Kräftig hatte der neuen Lehre der Pietismus vorgearbeitet. Per Pietis¬
mus ging von dem Gefühl der Liebe und der thätigen FrSmMgkeit aus; er
hat Werke der Barmherzigkeit gegründet, die diesem so vielfach gemißbrauch-
ten Namen immer Ehre machen werden; er hat die engherzigen dogmatischen
Controversen und den todten Buchstabenglauben verdrängt und war infofern,,
wenn er von der alten Orthodoxie verketzert wurde. ,ein Moment des Fort¬
schritts. Aber zugleich nährte er die Grübelei, das Wühlen im eignen Innern:
er entfremdete den Menschen völlig dem wirtlichen Leben und verkümmerte ihm
alle unschuldigen Freuden, so daß es aus Trotz gegen die pietistischen Ketzer
in manchen Städten, namentlich in Leipzig und Dresden, sür ein Zeichen der
Orthodoxie galt, wenn man tapfer zu Tanz und in die Komödie ging. Der
Pietismus artete bald in Kopfhängerci aus, und da er in den stillen Gemein¬
den, namentlich in den Erziehungsinstituten eine ziemlich bedeutende Propa¬
ganda machte, so zeigten sich in dem Leben vieler Schriftsteller, noch bis zu
Schleiermacher hin, mächtige Spuren seiner Einwirkung. Wir haben bei
frühern Gelegenheiten, z. B, bei Moritz, bei Stilling u. f. w,, diese Spuren
analysirt. So lange das Gefühl und die Anschauung naiv bleibs, wie in
"Stillings Jugend," hat sie etwas außerordentlich Reizendes, namentlich wenn
man eine gelind humoristische Färbung hinzuthut; sobald sie aber die Amts¬
miene aufhebt und vom Standpunkt der Doctrin gegen alle Bildung und Ver¬
nunft zu Felde zieht, wie in Stillings spätern Jahren, kann sie nur Ekel er¬
regen. Uebrigens war die geistige Richtung, die dem Pietismus zum Grunde
lag, bei weitem umfassender als seine Erscheinung: z. B. Gellert einen Pie¬
tisten im strengern Sinn zu nennen, wäre unstatthaft; und doch ist er ein ver¬
wandter Geist: seine Fabel vom Helden und vom Reitknecht ist vollständig
im Geist Speners und Zinzendorff, und was Goethe von der Kopfhängerci
und dem weinerlichen Wesen seines Alters berichtet, macht die Verwandtschaft
noch größer. -- Auch dieser Pietismus war nicht das Ideal der Glaubenö-
philosophen, die durchweg leine Kopfhänger waren, die zum Theil, wie z, B.
Hamann, sehr humoristisch sein konnten und die durchweg eine gründliche klassische
Bildung durchgemacht hatten. Die Lectüre des Homer verträgt sich qnf die
Länge mit der Betstube nicht.

Indessen hatte der Pietismus auf andre Weise^ mittelbar, den Glqubens-
philvsophen vorgearbeitet, indem er die Frauen emancipirte. Die, Orthodoxen
hatten strenge darauf gehalten, daß das Weib in dör Kische nschs mitreden
dürfe, während der Pietismus die Frauen nicht blos für gleichberechtigt, sondern
auch gewissermaßen für besonders berufen erklärte, am Werk des Hesrn sich zu be¬
theiligen. Die verschiedenen frommen Mütterchen, welche die Conventikel besuchten,


Untertänigkeit gegen den Herrn Ayitmann: .diese Art von Kirchenthum zurück¬
zuführen, lag nicht in der Absicht der Glaubensphilosophen.

Kräftig hatte der neuen Lehre der Pietismus vorgearbeitet. Per Pietis¬
mus ging von dem Gefühl der Liebe und der thätigen FrSmMgkeit aus; er
hat Werke der Barmherzigkeit gegründet, die diesem so vielfach gemißbrauch-
ten Namen immer Ehre machen werden; er hat die engherzigen dogmatischen
Controversen und den todten Buchstabenglauben verdrängt und war infofern,,
wenn er von der alten Orthodoxie verketzert wurde. ,ein Moment des Fort¬
schritts. Aber zugleich nährte er die Grübelei, das Wühlen im eignen Innern:
er entfremdete den Menschen völlig dem wirtlichen Leben und verkümmerte ihm
alle unschuldigen Freuden, so daß es aus Trotz gegen die pietistischen Ketzer
in manchen Städten, namentlich in Leipzig und Dresden, sür ein Zeichen der
Orthodoxie galt, wenn man tapfer zu Tanz und in die Komödie ging. Der
Pietismus artete bald in Kopfhängerci aus, und da er in den stillen Gemein¬
den, namentlich in den Erziehungsinstituten eine ziemlich bedeutende Propa¬
ganda machte, so zeigten sich in dem Leben vieler Schriftsteller, noch bis zu
Schleiermacher hin, mächtige Spuren seiner Einwirkung. Wir haben bei
frühern Gelegenheiten, z. B, bei Moritz, bei Stilling u. f. w,, diese Spuren
analysirt. So lange das Gefühl und die Anschauung naiv bleibs, wie in
„Stillings Jugend," hat sie etwas außerordentlich Reizendes, namentlich wenn
man eine gelind humoristische Färbung hinzuthut; sobald sie aber die Amts¬
miene aufhebt und vom Standpunkt der Doctrin gegen alle Bildung und Ver¬
nunft zu Felde zieht, wie in Stillings spätern Jahren, kann sie nur Ekel er¬
regen. Uebrigens war die geistige Richtung, die dem Pietismus zum Grunde
lag, bei weitem umfassender als seine Erscheinung: z. B. Gellert einen Pie¬
tisten im strengern Sinn zu nennen, wäre unstatthaft; und doch ist er ein ver¬
wandter Geist: seine Fabel vom Helden und vom Reitknecht ist vollständig
im Geist Speners und Zinzendorff, und was Goethe von der Kopfhängerci
und dem weinerlichen Wesen seines Alters berichtet, macht die Verwandtschaft
noch größer. — Auch dieser Pietismus war nicht das Ideal der Glaubenö-
philosophen, die durchweg leine Kopfhänger waren, die zum Theil, wie z, B.
Hamann, sehr humoristisch sein konnten und die durchweg eine gründliche klassische
Bildung durchgemacht hatten. Die Lectüre des Homer verträgt sich qnf die
Länge mit der Betstube nicht.

Indessen hatte der Pietismus auf andre Weise^ mittelbar, den Glqubens-
philvsophen vorgearbeitet, indem er die Frauen emancipirte. Die, Orthodoxen
hatten strenge darauf gehalten, daß das Weib in dör Kische nschs mitreden
dürfe, während der Pietismus die Frauen nicht blos für gleichberechtigt, sondern
auch gewissermaßen für besonders berufen erklärte, am Werk des Hesrn sich zu be¬
theiligen. Die verschiedenen frommen Mütterchen, welche die Conventikel besuchten,


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[0024] Untertänigkeit gegen den Herrn Ayitmann: .diese Art von Kirchenthum zurück¬ zuführen, lag nicht in der Absicht der Glaubensphilosophen. Kräftig hatte der neuen Lehre der Pietismus vorgearbeitet. Per Pietis¬ mus ging von dem Gefühl der Liebe und der thätigen FrSmMgkeit aus; er hat Werke der Barmherzigkeit gegründet, die diesem so vielfach gemißbrauch- ten Namen immer Ehre machen werden; er hat die engherzigen dogmatischen Controversen und den todten Buchstabenglauben verdrängt und war infofern,, wenn er von der alten Orthodoxie verketzert wurde. ,ein Moment des Fort¬ schritts. Aber zugleich nährte er die Grübelei, das Wühlen im eignen Innern: er entfremdete den Menschen völlig dem wirtlichen Leben und verkümmerte ihm alle unschuldigen Freuden, so daß es aus Trotz gegen die pietistischen Ketzer in manchen Städten, namentlich in Leipzig und Dresden, sür ein Zeichen der Orthodoxie galt, wenn man tapfer zu Tanz und in die Komödie ging. Der Pietismus artete bald in Kopfhängerci aus, und da er in den stillen Gemein¬ den, namentlich in den Erziehungsinstituten eine ziemlich bedeutende Propa¬ ganda machte, so zeigten sich in dem Leben vieler Schriftsteller, noch bis zu Schleiermacher hin, mächtige Spuren seiner Einwirkung. Wir haben bei frühern Gelegenheiten, z. B, bei Moritz, bei Stilling u. f. w,, diese Spuren analysirt. So lange das Gefühl und die Anschauung naiv bleibs, wie in „Stillings Jugend," hat sie etwas außerordentlich Reizendes, namentlich wenn man eine gelind humoristische Färbung hinzuthut; sobald sie aber die Amts¬ miene aufhebt und vom Standpunkt der Doctrin gegen alle Bildung und Ver¬ nunft zu Felde zieht, wie in Stillings spätern Jahren, kann sie nur Ekel er¬ regen. Uebrigens war die geistige Richtung, die dem Pietismus zum Grunde lag, bei weitem umfassender als seine Erscheinung: z. B. Gellert einen Pie¬ tisten im strengern Sinn zu nennen, wäre unstatthaft; und doch ist er ein ver¬ wandter Geist: seine Fabel vom Helden und vom Reitknecht ist vollständig im Geist Speners und Zinzendorff, und was Goethe von der Kopfhängerci und dem weinerlichen Wesen seines Alters berichtet, macht die Verwandtschaft noch größer. — Auch dieser Pietismus war nicht das Ideal der Glaubenö- philosophen, die durchweg leine Kopfhänger waren, die zum Theil, wie z, B. Hamann, sehr humoristisch sein konnten und die durchweg eine gründliche klassische Bildung durchgemacht hatten. Die Lectüre des Homer verträgt sich qnf die Länge mit der Betstube nicht. Indessen hatte der Pietismus auf andre Weise^ mittelbar, den Glqubens- philvsophen vorgearbeitet, indem er die Frauen emancipirte. Die, Orthodoxen hatten strenge darauf gehalten, daß das Weib in dör Kische nschs mitreden dürfe, während der Pietismus die Frauen nicht blos für gleichberechtigt, sondern auch gewissermaßen für besonders berufen erklärte, am Werk des Hesrn sich zu be¬ theiligen. Die verschiedenen frommen Mütterchen, welche die Conventikel besuchten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/24>, abgerufen am 15.05.2024.