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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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zur Erhaltung seiner Selbstständigkeit und des ihm zukommenden Einflusses
im Verhältniß zu den Nachbarstaaten an Bertheidigungsmitteln?

Zur Beantwortung dieser Frage sind zwei Ansichten aufgestellt worden.
Die eine derselben ist gegen das Fortbestehen der Landwehr überhaupt gerich¬
tet. Sie erkennt die Leistungen derselben in den Befreiungskriegen bereitwil¬
lig an. behauptet aber, daß die glücklichen Resultate jener großen Zeit nur
bedingungsweise als Muster für die kommende gelten. Es sei damals von
vornherein ein Kampf auf Leben und Tod, ein Krieg der Rache für lang¬
jährige Kränkung und Unterdrückung gewesen. Unsern neuausgebildcten
Wehrmänncrn hätten nur "och wenige alte französische Krieger und
größtentheils junge Conscribirte entgegengestanden. Nicht alle künftigen
Feldzüge würden gleich günstige Verhältnisse gewähren; die geringe Ausbil¬
dung der Truppen sich nicht immer auf beiden Seiten gleich stehen. Bei der
jetzigen Art, den Krieg zu fuhren, und der so wesentlich veränderten Bewaff¬
nung, die eine geschickte Hand und einen durchgebildeten Soldaten erfordern,
müsse es höchst bedenklich erscheinen, die Uebung eines großen Theils der
Armee auf die kurze Zeit weniger Wochen zu beschränken.

Die andere Ansicht läßt dieser Erörterung theilweise Recht widerfahren,
will aber das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Für sie knüpfen sich
an das Institut der Landwehr die theuersten Erinnerungen: der Gedanke an
jene Morgenröthe, die ans dem Schlachtendunkel der unvergeßlichen October-
tage heraufgestiegen, an die preußische Vaterlandsliebe, die voranleuchtend
aus der Nacht der Unterdrückung und der Schande Deutschland zum Siege
führte, an das damit verbundene Wiedererwachen des Bewußtseins, daß die
Deutschen eine Nation seien. Sie verhehlt es sich dagegen nicht, daß das erste
Bedürfniß jedes modernen Heeres, eine vollendete militärische Ausbildung, an¬
dauernder Beharrlichkeit in der Uebung bedarf; daß der preußische Staat nach
seinen geographischen Verhältnissen in die Lage kommen kann, einen doppel¬
ten Krieg zu führen, seine Kriegsrüstung nach rechts und links der Elbe theilen zu
müssen; daß die politische und finanzielle Wichtigkeit seiner östlichen und west¬
lichen Grenz-Provinzen ihm für alle Fälle verbietet, ihre Vertheidigung wie
im Jahre 1806 aufzugeben und sich wie damals an der Saale gegen Westen
zu concentriren. Dieses Alles aber kann durch die Vermehrung des stehen¬
den Heeres, bei der Erhaltung der Landwehr erreicht werden. Bei geeig¬
neten Einrichtungen, würde es nicht unmöglich für Preußen, im Fall eines Krieges
sein stehendes Heer auf folgende Stärke zu bringen: Infanterie 250,000 Mann.
Cavallerie 44.000 Mann, Artillerie 36,000 Mann. Pioniere 10,000 Mann:
Total 340.000 Mann; und zur engeren Landesverteidigung könnte dann
noch die Landwehr mit 260,000 Mann aufgeboten, mithin die gesammte
Offensivkraft mit 600,000 Mann in Bereitschaft gehalten werden. Dann erst


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zur Erhaltung seiner Selbstständigkeit und des ihm zukommenden Einflusses
im Verhältniß zu den Nachbarstaaten an Bertheidigungsmitteln?

Zur Beantwortung dieser Frage sind zwei Ansichten aufgestellt worden.
Die eine derselben ist gegen das Fortbestehen der Landwehr überhaupt gerich¬
tet. Sie erkennt die Leistungen derselben in den Befreiungskriegen bereitwil¬
lig an. behauptet aber, daß die glücklichen Resultate jener großen Zeit nur
bedingungsweise als Muster für die kommende gelten. Es sei damals von
vornherein ein Kampf auf Leben und Tod, ein Krieg der Rache für lang¬
jährige Kränkung und Unterdrückung gewesen. Unsern neuausgebildcten
Wehrmänncrn hätten nur »och wenige alte französische Krieger und
größtentheils junge Conscribirte entgegengestanden. Nicht alle künftigen
Feldzüge würden gleich günstige Verhältnisse gewähren; die geringe Ausbil¬
dung der Truppen sich nicht immer auf beiden Seiten gleich stehen. Bei der
jetzigen Art, den Krieg zu fuhren, und der so wesentlich veränderten Bewaff¬
nung, die eine geschickte Hand und einen durchgebildeten Soldaten erfordern,
müsse es höchst bedenklich erscheinen, die Uebung eines großen Theils der
Armee auf die kurze Zeit weniger Wochen zu beschränken.

Die andere Ansicht läßt dieser Erörterung theilweise Recht widerfahren,
will aber das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Für sie knüpfen sich
an das Institut der Landwehr die theuersten Erinnerungen: der Gedanke an
jene Morgenröthe, die ans dem Schlachtendunkel der unvergeßlichen October-
tage heraufgestiegen, an die preußische Vaterlandsliebe, die voranleuchtend
aus der Nacht der Unterdrückung und der Schande Deutschland zum Siege
führte, an das damit verbundene Wiedererwachen des Bewußtseins, daß die
Deutschen eine Nation seien. Sie verhehlt es sich dagegen nicht, daß das erste
Bedürfniß jedes modernen Heeres, eine vollendete militärische Ausbildung, an¬
dauernder Beharrlichkeit in der Uebung bedarf; daß der preußische Staat nach
seinen geographischen Verhältnissen in die Lage kommen kann, einen doppel¬
ten Krieg zu führen, seine Kriegsrüstung nach rechts und links der Elbe theilen zu
müssen; daß die politische und finanzielle Wichtigkeit seiner östlichen und west¬
lichen Grenz-Provinzen ihm für alle Fälle verbietet, ihre Vertheidigung wie
im Jahre 1806 aufzugeben und sich wie damals an der Saale gegen Westen
zu concentriren. Dieses Alles aber kann durch die Vermehrung des stehen¬
den Heeres, bei der Erhaltung der Landwehr erreicht werden. Bei geeig¬
neten Einrichtungen, würde es nicht unmöglich für Preußen, im Fall eines Krieges
sein stehendes Heer auf folgende Stärke zu bringen: Infanterie 250,000 Mann.
Cavallerie 44.000 Mann, Artillerie 36,000 Mann. Pioniere 10,000 Mann:
Total 340.000 Mann; und zur engeren Landesverteidigung könnte dann
noch die Landwehr mit 260,000 Mann aufgeboten, mithin die gesammte
Offensivkraft mit 600,000 Mann in Bereitschaft gehalten werden. Dann erst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/279>, abgerufen am 15.05.2024.