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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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ohne Weiteres die objective folgern wird, erfüllen wir noch einen zweiten
Wunsch, den er gleichfalls in der Vorrede ausspricht, den Wunsch nämlich,
daß man über den Plan seines Werks nicht eher urtheilen möge, bevor das
Ganze vorliege. Der gegenwärtige ziemlich voluminöse Band enthält nur
den ersten Theil. Der Verfasser geht von der Ueberzeugung aus, daß Goethes
Plan, den Faust zu erlösen, in der Intention ein Fortschritt gegen die alte
Sage, daß er aber in der Ausführung mißlungen sei, und daß namentlich
die Schlußscene nicht bloß.dem Zusammenhang des Stücks, sondern auch dem
gesunden menschlichen Gefühl widerspreche. In dieser Ansicht geben wir ihm
vollkommen Recht. Wenn Schiller, fährt er fort, das Thema behandelt
hätte, so wäre daraus wahrscheinlich ein Stück geworden, das alle Ansprüche
befriedigt hätte; da das aber nicht geschehn, so habe er sich selbst, wenn auch mit'
schwächeren Kräften, an den Versuch gewagt, den Faust, in dem er den Re¬
präsentanten der Menschheit sieht, aus naturgemäße Weise mit dialektischer
Nothwendigkeit zu erlösen. Da wir den Weg, auf dem er zu diesem Resultat
kommen will, noch nicht übersehen, so enthalten wir uns jeden Urtheils über
das, was er geleistet hat, und beschränken uns darauf, die Aufgabe im All¬
gemeinen zu beleuchten.

Von den Nachtheilen einer geistigen Reproduction überhaupt zu reden,
ist kaum nöthig, sie liegen auf der Hand. Jedes wahrhaft dichterische Ge-
schöpf ist organisch aus dem Innern seines Schöpfers hervorgegangen; was
ein anderer zur Ergänzung zu machen unternimmt, ist eitel Leim und Holz.
Damit ist aber nicht gesagt, daß bei solchen Versuchen nicht sehr Interessan¬
tes herauskommen sollte. Hätte Goethe, wie er gewollt, den Demetrius voll¬
endet, so wäre daraus gewiß kein organisches Kunstwerk hervorgegangen,
aber doch ein Werk, das der Nation als Symbol einer echten Dichterfreund¬
schaft hätte werth sein, und für jeden angehenden Dichter eine viel bedeuten¬
dere Studie werden müssen als alle Regeln der Kunstphilosophie.

Ernsthafter müssen wir einer zweiten Behauptung begegnen, daß Faust
ein Repräsentant der Menschheit sein solle. Es gibt keinen individuellen
Vertreter der Menschheit, die Menschheit ezplicirt sich nur in der ganzen Fülle
ihrer Erscheinungen, zunächst in ihren Heroen, dann aber in der ganzen
Masse aller Wesen, die je gelebt haben. Alexander und Sokrates in einer
Person sein zu wollen, ist eben so verdreht, als wenn man zugleich Mann
und Frau sein wollte. Ernsthaft hat diesen Gedanken, die Menschheit auf
Einen zu reduciren, nur der Kaiser Caliguln gehegt, welcher der Menschheit
einen einzigen Hals wünschte, um ihn abzuschlagen.

Dieser Gedanke zeichnet sich nicht durch seine Neuheit aus, aber er muß
immer wiederholt werden, weil man immer wieder auf jene absurde Behaup¬
tung zurückkommt. Goethe freilich läßt seinen Faust, den leidenschaftlichen


ohne Weiteres die objective folgern wird, erfüllen wir noch einen zweiten
Wunsch, den er gleichfalls in der Vorrede ausspricht, den Wunsch nämlich,
daß man über den Plan seines Werks nicht eher urtheilen möge, bevor das
Ganze vorliege. Der gegenwärtige ziemlich voluminöse Band enthält nur
den ersten Theil. Der Verfasser geht von der Ueberzeugung aus, daß Goethes
Plan, den Faust zu erlösen, in der Intention ein Fortschritt gegen die alte
Sage, daß er aber in der Ausführung mißlungen sei, und daß namentlich
die Schlußscene nicht bloß.dem Zusammenhang des Stücks, sondern auch dem
gesunden menschlichen Gefühl widerspreche. In dieser Ansicht geben wir ihm
vollkommen Recht. Wenn Schiller, fährt er fort, das Thema behandelt
hätte, so wäre daraus wahrscheinlich ein Stück geworden, das alle Ansprüche
befriedigt hätte; da das aber nicht geschehn, so habe er sich selbst, wenn auch mit'
schwächeren Kräften, an den Versuch gewagt, den Faust, in dem er den Re¬
präsentanten der Menschheit sieht, aus naturgemäße Weise mit dialektischer
Nothwendigkeit zu erlösen. Da wir den Weg, auf dem er zu diesem Resultat
kommen will, noch nicht übersehen, so enthalten wir uns jeden Urtheils über
das, was er geleistet hat, und beschränken uns darauf, die Aufgabe im All¬
gemeinen zu beleuchten.

Von den Nachtheilen einer geistigen Reproduction überhaupt zu reden,
ist kaum nöthig, sie liegen auf der Hand. Jedes wahrhaft dichterische Ge-
schöpf ist organisch aus dem Innern seines Schöpfers hervorgegangen; was
ein anderer zur Ergänzung zu machen unternimmt, ist eitel Leim und Holz.
Damit ist aber nicht gesagt, daß bei solchen Versuchen nicht sehr Interessan¬
tes herauskommen sollte. Hätte Goethe, wie er gewollt, den Demetrius voll¬
endet, so wäre daraus gewiß kein organisches Kunstwerk hervorgegangen,
aber doch ein Werk, das der Nation als Symbol einer echten Dichterfreund¬
schaft hätte werth sein, und für jeden angehenden Dichter eine viel bedeuten¬
dere Studie werden müssen als alle Regeln der Kunstphilosophie.

Ernsthafter müssen wir einer zweiten Behauptung begegnen, daß Faust
ein Repräsentant der Menschheit sein solle. Es gibt keinen individuellen
Vertreter der Menschheit, die Menschheit ezplicirt sich nur in der ganzen Fülle
ihrer Erscheinungen, zunächst in ihren Heroen, dann aber in der ganzen
Masse aller Wesen, die je gelebt haben. Alexander und Sokrates in einer
Person sein zu wollen, ist eben so verdreht, als wenn man zugleich Mann
und Frau sein wollte. Ernsthaft hat diesen Gedanken, die Menschheit auf
Einen zu reduciren, nur der Kaiser Caliguln gehegt, welcher der Menschheit
einen einzigen Hals wünschte, um ihn abzuschlagen.

Dieser Gedanke zeichnet sich nicht durch seine Neuheit aus, aber er muß
immer wiederholt werden, weil man immer wieder auf jene absurde Behaup¬
tung zurückkommt. Goethe freilich läßt seinen Faust, den leidenschaftlichen


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[0281] ohne Weiteres die objective folgern wird, erfüllen wir noch einen zweiten Wunsch, den er gleichfalls in der Vorrede ausspricht, den Wunsch nämlich, daß man über den Plan seines Werks nicht eher urtheilen möge, bevor das Ganze vorliege. Der gegenwärtige ziemlich voluminöse Band enthält nur den ersten Theil. Der Verfasser geht von der Ueberzeugung aus, daß Goethes Plan, den Faust zu erlösen, in der Intention ein Fortschritt gegen die alte Sage, daß er aber in der Ausführung mißlungen sei, und daß namentlich die Schlußscene nicht bloß.dem Zusammenhang des Stücks, sondern auch dem gesunden menschlichen Gefühl widerspreche. In dieser Ansicht geben wir ihm vollkommen Recht. Wenn Schiller, fährt er fort, das Thema behandelt hätte, so wäre daraus wahrscheinlich ein Stück geworden, das alle Ansprüche befriedigt hätte; da das aber nicht geschehn, so habe er sich selbst, wenn auch mit' schwächeren Kräften, an den Versuch gewagt, den Faust, in dem er den Re¬ präsentanten der Menschheit sieht, aus naturgemäße Weise mit dialektischer Nothwendigkeit zu erlösen. Da wir den Weg, auf dem er zu diesem Resultat kommen will, noch nicht übersehen, so enthalten wir uns jeden Urtheils über das, was er geleistet hat, und beschränken uns darauf, die Aufgabe im All¬ gemeinen zu beleuchten. Von den Nachtheilen einer geistigen Reproduction überhaupt zu reden, ist kaum nöthig, sie liegen auf der Hand. Jedes wahrhaft dichterische Ge- schöpf ist organisch aus dem Innern seines Schöpfers hervorgegangen; was ein anderer zur Ergänzung zu machen unternimmt, ist eitel Leim und Holz. Damit ist aber nicht gesagt, daß bei solchen Versuchen nicht sehr Interessan¬ tes herauskommen sollte. Hätte Goethe, wie er gewollt, den Demetrius voll¬ endet, so wäre daraus gewiß kein organisches Kunstwerk hervorgegangen, aber doch ein Werk, das der Nation als Symbol einer echten Dichterfreund¬ schaft hätte werth sein, und für jeden angehenden Dichter eine viel bedeuten¬ dere Studie werden müssen als alle Regeln der Kunstphilosophie. Ernsthafter müssen wir einer zweiten Behauptung begegnen, daß Faust ein Repräsentant der Menschheit sein solle. Es gibt keinen individuellen Vertreter der Menschheit, die Menschheit ezplicirt sich nur in der ganzen Fülle ihrer Erscheinungen, zunächst in ihren Heroen, dann aber in der ganzen Masse aller Wesen, die je gelebt haben. Alexander und Sokrates in einer Person sein zu wollen, ist eben so verdreht, als wenn man zugleich Mann und Frau sein wollte. Ernsthaft hat diesen Gedanken, die Menschheit auf Einen zu reduciren, nur der Kaiser Caliguln gehegt, welcher der Menschheit einen einzigen Hals wünschte, um ihn abzuschlagen. Dieser Gedanke zeichnet sich nicht durch seine Neuheit aus, aber er muß immer wiederholt werden, weil man immer wieder auf jene absurde Behaup¬ tung zurückkommt. Goethe freilich läßt seinen Faust, den leidenschaftlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/281>, abgerufen am 15.05.2024.