Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Grübler, der von den Freuden des Lebens noch nichts gekostet hat, in einem
Augenblick rasender Leidenschaft ausrufen, er wolle alles Leid und alle Freude
genießen, die der ganzen Menschheit zugetheilt seien. Aber Mephistopheles
entgegnet ihm darauf ganz richtig, dieses Ganze sei nur für einen Gott ge¬
macht. Der Mensch ist ein Kind der Stunden, sein Wesen ist die Endlichkeit
und er ist nichts, als insofern er endlich etwas ist. Wollte man auch seine
Existenz über Jahrtausende ausdehnen, wie es seit der Ermahnung von Ger-
vinus mit dem ewigen Juden zu geschehen pflegt, der leider auch in diesem
Faust wieder spuckt, so Hütte man damit nichts gewonnen, als einen Zu¬
schauer endloser Begebenheiten, der in sich selbst keinen Inhalt und keine Ge¬
schichte Hütten denn die Geschichte ist begrenzt durch das Maaß der Beziehun¬
gen, welche die Menschenkraft umspannt. Man male sich das Schicksal der
Patriarchen nach den Zahlangaben der Bibel aus. und versetze sich in die
'Seele eines Methusalem, der sich sagen mußte, bereits von dreißig Genera¬
tionen vergessen zu sein und nur noch wie der Schatten eines Schattens ohne
Beziehungen auf der Erde zu vegetiren. Was diese Art von Unsterblichkeit
sagen will, hat Swift in dem gräßlichen Bilde ausgemalt, das er seinem
Gulliver vorführt.

Der Dichter zeige uns endliche Wesen, die deshalb nicht weniger stark
empfinden, weil sie endlich d. h. bestimmt empfinden. Ein solches Wesen ist
der ursprüngliche Goethesche Faust. Auch der Drang ins Unendliche ist eine
sehr endliche, dem bestimmten Moment angehörige Empfindung. Es ist der
Drang der Jugend, die absolut bestimmbar noch keine Bestimmung in sich
selbst findet, und darum vorlüufig ihre ganze Kraft in Sehnsucht ausgibt.
Der so dachte und empfand, als der Anfang des Faust geschrieben wurde,
war der Dichter selbst, der Dichter des Werther, der Dichter des Prometheus;
und auch so gab er nur ein Stück seines Wesens, denn er war auch Mephisto¬
pheles mit dem vollen Bewußtsein der Grenze. Der bloße Faust wäre nicht
der Goethe geworden, zu dem wir noch heute aufblicken, wol aber Faust, der
auch Mephistopheles war. Marie Seebach hat den genialen Einfall gehabt,
Gleichen und den bösen Geist in einer Person zu sprechen: das ist vollkommen
richtig, und fast ebenso richtig würe es, die Dialoge zwischen Faust und Me¬
phistopheles in einen unausgesetzten Monolog zu verwandeln. Doch wollten
wir keinem Schauspieler rathen, den Versuch zu machen.

Aus jener Fauststimmung war Goethe bereits im Jahre 1777, d. h. 13 Jahre
bevor das erste Faustfragmcnt gedruckt wurde, vollstündig befreit, so befreit,
daß ihn die Fauststimmung bei jedem andern unerträglich vorkam. Er hatte
gelernt, daß um ins Unendliche zu schreiten, man sich des Endlichen nach allen
Seiten bemächtigen müsse; er trieb eifrig seine Naturstudien, mit unbefangener
Freude an jedem, auch dem kleinsten Resultat; er schrieb den Triumph der


Grübler, der von den Freuden des Lebens noch nichts gekostet hat, in einem
Augenblick rasender Leidenschaft ausrufen, er wolle alles Leid und alle Freude
genießen, die der ganzen Menschheit zugetheilt seien. Aber Mephistopheles
entgegnet ihm darauf ganz richtig, dieses Ganze sei nur für einen Gott ge¬
macht. Der Mensch ist ein Kind der Stunden, sein Wesen ist die Endlichkeit
und er ist nichts, als insofern er endlich etwas ist. Wollte man auch seine
Existenz über Jahrtausende ausdehnen, wie es seit der Ermahnung von Ger-
vinus mit dem ewigen Juden zu geschehen pflegt, der leider auch in diesem
Faust wieder spuckt, so Hütte man damit nichts gewonnen, als einen Zu¬
schauer endloser Begebenheiten, der in sich selbst keinen Inhalt und keine Ge¬
schichte Hütten denn die Geschichte ist begrenzt durch das Maaß der Beziehun¬
gen, welche die Menschenkraft umspannt. Man male sich das Schicksal der
Patriarchen nach den Zahlangaben der Bibel aus. und versetze sich in die
'Seele eines Methusalem, der sich sagen mußte, bereits von dreißig Genera¬
tionen vergessen zu sein und nur noch wie der Schatten eines Schattens ohne
Beziehungen auf der Erde zu vegetiren. Was diese Art von Unsterblichkeit
sagen will, hat Swift in dem gräßlichen Bilde ausgemalt, das er seinem
Gulliver vorführt.

Der Dichter zeige uns endliche Wesen, die deshalb nicht weniger stark
empfinden, weil sie endlich d. h. bestimmt empfinden. Ein solches Wesen ist
der ursprüngliche Goethesche Faust. Auch der Drang ins Unendliche ist eine
sehr endliche, dem bestimmten Moment angehörige Empfindung. Es ist der
Drang der Jugend, die absolut bestimmbar noch keine Bestimmung in sich
selbst findet, und darum vorlüufig ihre ganze Kraft in Sehnsucht ausgibt.
Der so dachte und empfand, als der Anfang des Faust geschrieben wurde,
war der Dichter selbst, der Dichter des Werther, der Dichter des Prometheus;
und auch so gab er nur ein Stück seines Wesens, denn er war auch Mephisto¬
pheles mit dem vollen Bewußtsein der Grenze. Der bloße Faust wäre nicht
der Goethe geworden, zu dem wir noch heute aufblicken, wol aber Faust, der
auch Mephistopheles war. Marie Seebach hat den genialen Einfall gehabt,
Gleichen und den bösen Geist in einer Person zu sprechen: das ist vollkommen
richtig, und fast ebenso richtig würe es, die Dialoge zwischen Faust und Me¬
phistopheles in einen unausgesetzten Monolog zu verwandeln. Doch wollten
wir keinem Schauspieler rathen, den Versuch zu machen.

Aus jener Fauststimmung war Goethe bereits im Jahre 1777, d. h. 13 Jahre
bevor das erste Faustfragmcnt gedruckt wurde, vollstündig befreit, so befreit,
daß ihn die Fauststimmung bei jedem andern unerträglich vorkam. Er hatte
gelernt, daß um ins Unendliche zu schreiten, man sich des Endlichen nach allen
Seiten bemächtigen müsse; er trieb eifrig seine Naturstudien, mit unbefangener
Freude an jedem, auch dem kleinsten Resultat; er schrieb den Triumph der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0282" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/109004"/>
          <p xml:id="ID_794" prev="#ID_793"> Grübler, der von den Freuden des Lebens noch nichts gekostet hat, in einem<lb/>
Augenblick rasender Leidenschaft ausrufen, er wolle alles Leid und alle Freude<lb/>
genießen, die der ganzen Menschheit zugetheilt seien. Aber Mephistopheles<lb/>
entgegnet ihm darauf ganz richtig, dieses Ganze sei nur für einen Gott ge¬<lb/>
macht. Der Mensch ist ein Kind der Stunden, sein Wesen ist die Endlichkeit<lb/>
und er ist nichts, als insofern er endlich etwas ist. Wollte man auch seine<lb/>
Existenz über Jahrtausende ausdehnen, wie es seit der Ermahnung von Ger-<lb/>
vinus mit dem ewigen Juden zu geschehen pflegt, der leider auch in diesem<lb/>
Faust wieder spuckt, so Hütte man damit nichts gewonnen, als einen Zu¬<lb/>
schauer endloser Begebenheiten, der in sich selbst keinen Inhalt und keine Ge¬<lb/>
schichte Hütten denn die Geschichte ist begrenzt durch das Maaß der Beziehun¬<lb/>
gen, welche die Menschenkraft umspannt. Man male sich das Schicksal der<lb/>
Patriarchen nach den Zahlangaben der Bibel aus. und versetze sich in die<lb/>
'Seele eines Methusalem, der sich sagen mußte, bereits von dreißig Genera¬<lb/>
tionen vergessen zu sein und nur noch wie der Schatten eines Schattens ohne<lb/>
Beziehungen auf der Erde zu vegetiren. Was diese Art von Unsterblichkeit<lb/>
sagen will, hat Swift in dem gräßlichen Bilde ausgemalt, das er seinem<lb/>
Gulliver vorführt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_795"> Der Dichter zeige uns endliche Wesen, die deshalb nicht weniger stark<lb/>
empfinden, weil sie endlich d. h. bestimmt empfinden. Ein solches Wesen ist<lb/>
der ursprüngliche Goethesche Faust. Auch der Drang ins Unendliche ist eine<lb/>
sehr endliche, dem bestimmten Moment angehörige Empfindung. Es ist der<lb/>
Drang der Jugend, die absolut bestimmbar noch keine Bestimmung in sich<lb/>
selbst findet, und darum vorlüufig ihre ganze Kraft in Sehnsucht ausgibt.<lb/>
Der so dachte und empfand, als der Anfang des Faust geschrieben wurde,<lb/>
war der Dichter selbst, der Dichter des Werther, der Dichter des Prometheus;<lb/>
und auch so gab er nur ein Stück seines Wesens, denn er war auch Mephisto¬<lb/>
pheles mit dem vollen Bewußtsein der Grenze. Der bloße Faust wäre nicht<lb/>
der Goethe geworden, zu dem wir noch heute aufblicken, wol aber Faust, der<lb/>
auch Mephistopheles war. Marie Seebach hat den genialen Einfall gehabt,<lb/>
Gleichen und den bösen Geist in einer Person zu sprechen: das ist vollkommen<lb/>
richtig, und fast ebenso richtig würe es, die Dialoge zwischen Faust und Me¬<lb/>
phistopheles in einen unausgesetzten Monolog zu verwandeln. Doch wollten<lb/>
wir keinem Schauspieler rathen, den Versuch zu machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_796" next="#ID_797"> Aus jener Fauststimmung war Goethe bereits im Jahre 1777, d. h. 13 Jahre<lb/>
bevor das erste Faustfragmcnt gedruckt wurde, vollstündig befreit, so befreit,<lb/>
daß ihn die Fauststimmung bei jedem andern unerträglich vorkam. Er hatte<lb/>
gelernt, daß um ins Unendliche zu schreiten, man sich des Endlichen nach allen<lb/>
Seiten bemächtigen müsse; er trieb eifrig seine Naturstudien, mit unbefangener<lb/>
Freude an jedem, auch dem kleinsten Resultat; er schrieb den Triumph der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0282] Grübler, der von den Freuden des Lebens noch nichts gekostet hat, in einem Augenblick rasender Leidenschaft ausrufen, er wolle alles Leid und alle Freude genießen, die der ganzen Menschheit zugetheilt seien. Aber Mephistopheles entgegnet ihm darauf ganz richtig, dieses Ganze sei nur für einen Gott ge¬ macht. Der Mensch ist ein Kind der Stunden, sein Wesen ist die Endlichkeit und er ist nichts, als insofern er endlich etwas ist. Wollte man auch seine Existenz über Jahrtausende ausdehnen, wie es seit der Ermahnung von Ger- vinus mit dem ewigen Juden zu geschehen pflegt, der leider auch in diesem Faust wieder spuckt, so Hütte man damit nichts gewonnen, als einen Zu¬ schauer endloser Begebenheiten, der in sich selbst keinen Inhalt und keine Ge¬ schichte Hütten denn die Geschichte ist begrenzt durch das Maaß der Beziehun¬ gen, welche die Menschenkraft umspannt. Man male sich das Schicksal der Patriarchen nach den Zahlangaben der Bibel aus. und versetze sich in die 'Seele eines Methusalem, der sich sagen mußte, bereits von dreißig Genera¬ tionen vergessen zu sein und nur noch wie der Schatten eines Schattens ohne Beziehungen auf der Erde zu vegetiren. Was diese Art von Unsterblichkeit sagen will, hat Swift in dem gräßlichen Bilde ausgemalt, das er seinem Gulliver vorführt. Der Dichter zeige uns endliche Wesen, die deshalb nicht weniger stark empfinden, weil sie endlich d. h. bestimmt empfinden. Ein solches Wesen ist der ursprüngliche Goethesche Faust. Auch der Drang ins Unendliche ist eine sehr endliche, dem bestimmten Moment angehörige Empfindung. Es ist der Drang der Jugend, die absolut bestimmbar noch keine Bestimmung in sich selbst findet, und darum vorlüufig ihre ganze Kraft in Sehnsucht ausgibt. Der so dachte und empfand, als der Anfang des Faust geschrieben wurde, war der Dichter selbst, der Dichter des Werther, der Dichter des Prometheus; und auch so gab er nur ein Stück seines Wesens, denn er war auch Mephisto¬ pheles mit dem vollen Bewußtsein der Grenze. Der bloße Faust wäre nicht der Goethe geworden, zu dem wir noch heute aufblicken, wol aber Faust, der auch Mephistopheles war. Marie Seebach hat den genialen Einfall gehabt, Gleichen und den bösen Geist in einer Person zu sprechen: das ist vollkommen richtig, und fast ebenso richtig würe es, die Dialoge zwischen Faust und Me¬ phistopheles in einen unausgesetzten Monolog zu verwandeln. Doch wollten wir keinem Schauspieler rathen, den Versuch zu machen. Aus jener Fauststimmung war Goethe bereits im Jahre 1777, d. h. 13 Jahre bevor das erste Faustfragmcnt gedruckt wurde, vollstündig befreit, so befreit, daß ihn die Fauststimmung bei jedem andern unerträglich vorkam. Er hatte gelernt, daß um ins Unendliche zu schreiten, man sich des Endlichen nach allen Seiten bemächtigen müsse; er trieb eifrig seine Naturstudien, mit unbefangener Freude an jedem, auch dem kleinsten Resultat; er schrieb den Triumph der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/282
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/282>, abgerufen am 05.06.2024.