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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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ersehen. Rochlitz mochte wol der Erfinder dieser Literatur sein; in Aufnahme
brachte sie aber erst Hoffmann. der in Frankreich ebenso viel Nachahmer fand
als in Deutschland. Wenn Hoffmann in die Musikstücke, die er besprach, zu¬
weilen Dinge hineinlegte, an die der Componist nicht im entferntesten gedacht
haben konnte, so fühlte man darin noch immer den gebildeten Musiker
heraus; seine Manier wurde ihm aber auch von solchen abgelernt, die nicht
das geringste Recht hatten, über Musik mitzureden. Ein glänzendes Beispiel
dieser Virtuosität ist Heine. Auch nicht begann als Feuilletonist, und ganz
hat er die Spuren dieser früheren Schreibart auch in seinen neuesten Schriften
nicht verwischt. Doch zeigt die zweite Folge seiner musikalischen Charakter¬
kopfe nicht blos gegen die Aufsätze in der "Gegenwart," sondern auch gegen
den ersten Band jenes Werks einen sehr merklichen Fortschritt. Es ist noch
die alte etwas übersprudelnde Form; was aber das Urtheil betrifft, so finden
wir fast gar keine Paradoxie darin; im Gegentheil haben wir uns darüber
gefreut, daß trotz der heftigen Parteikämpfe in der musikalischen Welt in der
Hauptsache doch die allgemeine Meinung fest gegründet ist. Wenigstens gilt
das von der Musik der Vergangenheit; was die Zukunft betrifft, so irren wir
freilich noch in einer sehr unbestimmten Dämmerung umher. -- Richts Buch
zerfällt in zwei Abschnitte: die Geschichte der sogenannten romantischen Oper,
etwa von 1815--35, und zerstreute Bemerkungen über die Claviercompositionen
von Clementi, Weber, Haydn und Sebastian Bach. Dem zweiten Theil, ob¬
gleich er weniger ein Ganzes ausmacht, möchten wir den Vorzug geben; es
sind außerordentlich feine Bemerkungen darin, und der Freund der Musik, der
nicht gerade eigentlicher Musiker ist, wird mit ebenso viel Nutzen als Ver¬
gnügen in diesen kleinen Stücken sein eignes Urtheil besser ausgedrückt, er¬
weitert und berichtigt finden. Was den Stoff betrifft, so erregt zwar der erste
Theil größeres Interesse. Die Geschichte der Oper in jener Periode ist für
die Entwicklung der geistigen Interessen fast wichtiger als die Geschichte des
Schauspiels, nicht blos weil viel bedeutendere Kräfte daran arbeiteten, sondern
auch weil die allgemeine Stimmung sich mehr damit beschäftigte. Den Grund
dieses eigenthümlichen Umstandes aufzusuchen, bleibt einem spätern Geschicht¬
schreiber vorbehalten; Riese hat sich begnügt, die einzelnen Componisten der
drei Nationen zu charakterisiren und zwischen dem, was die öffentliche Auf¬
merksamkeit in andern Beziehungen beschäftigte, eine mehr äußerliche Parallele
zu ziehen. Doch hat er das sehr geschickt gemacht und es ist ein anziehendes
Bild daraus hervorgegangen. Manches schuldet er dem bekannten Buch von
Richard Wagner, welches neben den seltsamsten Anforderungen an das,
was die Kunst noch zu leisten habe, äußerst schätzbare Bemerkungen über das
enthält, was sie bereits geleistet. -- Ein anderer Kritiker, Louis Estere,
"Briefe über Musik an eine Freundin" (Berlin, Guttcntag), wirft sich mit grö-


Grenzbvten I. 1860, 35

ersehen. Rochlitz mochte wol der Erfinder dieser Literatur sein; in Aufnahme
brachte sie aber erst Hoffmann. der in Frankreich ebenso viel Nachahmer fand
als in Deutschland. Wenn Hoffmann in die Musikstücke, die er besprach, zu¬
weilen Dinge hineinlegte, an die der Componist nicht im entferntesten gedacht
haben konnte, so fühlte man darin noch immer den gebildeten Musiker
heraus; seine Manier wurde ihm aber auch von solchen abgelernt, die nicht
das geringste Recht hatten, über Musik mitzureden. Ein glänzendes Beispiel
dieser Virtuosität ist Heine. Auch nicht begann als Feuilletonist, und ganz
hat er die Spuren dieser früheren Schreibart auch in seinen neuesten Schriften
nicht verwischt. Doch zeigt die zweite Folge seiner musikalischen Charakter¬
kopfe nicht blos gegen die Aufsätze in der „Gegenwart," sondern auch gegen
den ersten Band jenes Werks einen sehr merklichen Fortschritt. Es ist noch
die alte etwas übersprudelnde Form; was aber das Urtheil betrifft, so finden
wir fast gar keine Paradoxie darin; im Gegentheil haben wir uns darüber
gefreut, daß trotz der heftigen Parteikämpfe in der musikalischen Welt in der
Hauptsache doch die allgemeine Meinung fest gegründet ist. Wenigstens gilt
das von der Musik der Vergangenheit; was die Zukunft betrifft, so irren wir
freilich noch in einer sehr unbestimmten Dämmerung umher. — Richts Buch
zerfällt in zwei Abschnitte: die Geschichte der sogenannten romantischen Oper,
etwa von 1815—35, und zerstreute Bemerkungen über die Claviercompositionen
von Clementi, Weber, Haydn und Sebastian Bach. Dem zweiten Theil, ob¬
gleich er weniger ein Ganzes ausmacht, möchten wir den Vorzug geben; es
sind außerordentlich feine Bemerkungen darin, und der Freund der Musik, der
nicht gerade eigentlicher Musiker ist, wird mit ebenso viel Nutzen als Ver¬
gnügen in diesen kleinen Stücken sein eignes Urtheil besser ausgedrückt, er¬
weitert und berichtigt finden. Was den Stoff betrifft, so erregt zwar der erste
Theil größeres Interesse. Die Geschichte der Oper in jener Periode ist für
die Entwicklung der geistigen Interessen fast wichtiger als die Geschichte des
Schauspiels, nicht blos weil viel bedeutendere Kräfte daran arbeiteten, sondern
auch weil die allgemeine Stimmung sich mehr damit beschäftigte. Den Grund
dieses eigenthümlichen Umstandes aufzusuchen, bleibt einem spätern Geschicht¬
schreiber vorbehalten; Riese hat sich begnügt, die einzelnen Componisten der
drei Nationen zu charakterisiren und zwischen dem, was die öffentliche Auf¬
merksamkeit in andern Beziehungen beschäftigte, eine mehr äußerliche Parallele
zu ziehen. Doch hat er das sehr geschickt gemacht und es ist ein anziehendes
Bild daraus hervorgegangen. Manches schuldet er dem bekannten Buch von
Richard Wagner, welches neben den seltsamsten Anforderungen an das,
was die Kunst noch zu leisten habe, äußerst schätzbare Bemerkungen über das
enthält, was sie bereits geleistet. — Ein anderer Kritiker, Louis Estere,
„Briefe über Musik an eine Freundin" (Berlin, Guttcntag), wirft sich mit grö-


Grenzbvten I. 1860, 35
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[0285] ersehen. Rochlitz mochte wol der Erfinder dieser Literatur sein; in Aufnahme brachte sie aber erst Hoffmann. der in Frankreich ebenso viel Nachahmer fand als in Deutschland. Wenn Hoffmann in die Musikstücke, die er besprach, zu¬ weilen Dinge hineinlegte, an die der Componist nicht im entferntesten gedacht haben konnte, so fühlte man darin noch immer den gebildeten Musiker heraus; seine Manier wurde ihm aber auch von solchen abgelernt, die nicht das geringste Recht hatten, über Musik mitzureden. Ein glänzendes Beispiel dieser Virtuosität ist Heine. Auch nicht begann als Feuilletonist, und ganz hat er die Spuren dieser früheren Schreibart auch in seinen neuesten Schriften nicht verwischt. Doch zeigt die zweite Folge seiner musikalischen Charakter¬ kopfe nicht blos gegen die Aufsätze in der „Gegenwart," sondern auch gegen den ersten Band jenes Werks einen sehr merklichen Fortschritt. Es ist noch die alte etwas übersprudelnde Form; was aber das Urtheil betrifft, so finden wir fast gar keine Paradoxie darin; im Gegentheil haben wir uns darüber gefreut, daß trotz der heftigen Parteikämpfe in der musikalischen Welt in der Hauptsache doch die allgemeine Meinung fest gegründet ist. Wenigstens gilt das von der Musik der Vergangenheit; was die Zukunft betrifft, so irren wir freilich noch in einer sehr unbestimmten Dämmerung umher. — Richts Buch zerfällt in zwei Abschnitte: die Geschichte der sogenannten romantischen Oper, etwa von 1815—35, und zerstreute Bemerkungen über die Claviercompositionen von Clementi, Weber, Haydn und Sebastian Bach. Dem zweiten Theil, ob¬ gleich er weniger ein Ganzes ausmacht, möchten wir den Vorzug geben; es sind außerordentlich feine Bemerkungen darin, und der Freund der Musik, der nicht gerade eigentlicher Musiker ist, wird mit ebenso viel Nutzen als Ver¬ gnügen in diesen kleinen Stücken sein eignes Urtheil besser ausgedrückt, er¬ weitert und berichtigt finden. Was den Stoff betrifft, so erregt zwar der erste Theil größeres Interesse. Die Geschichte der Oper in jener Periode ist für die Entwicklung der geistigen Interessen fast wichtiger als die Geschichte des Schauspiels, nicht blos weil viel bedeutendere Kräfte daran arbeiteten, sondern auch weil die allgemeine Stimmung sich mehr damit beschäftigte. Den Grund dieses eigenthümlichen Umstandes aufzusuchen, bleibt einem spätern Geschicht¬ schreiber vorbehalten; Riese hat sich begnügt, die einzelnen Componisten der drei Nationen zu charakterisiren und zwischen dem, was die öffentliche Auf¬ merksamkeit in andern Beziehungen beschäftigte, eine mehr äußerliche Parallele zu ziehen. Doch hat er das sehr geschickt gemacht und es ist ein anziehendes Bild daraus hervorgegangen. Manches schuldet er dem bekannten Buch von Richard Wagner, welches neben den seltsamsten Anforderungen an das, was die Kunst noch zu leisten habe, äußerst schätzbare Bemerkungen über das enthält, was sie bereits geleistet. — Ein anderer Kritiker, Louis Estere, „Briefe über Musik an eine Freundin" (Berlin, Guttcntag), wirft sich mit grö- Grenzbvten I. 1860, 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/285>, abgerufen am 04.06.2024.