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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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szerer Kühnheit in das bedenkliche Thema der Zukunftsmusik, er geht von dem
sehr anerkennenswerther Bestreben ans, die Gegensatze so weit als möglich
zu versöhnen, sie zunächst über das zu verständigen, was sie eigentlich wollen,
die unreinen Elemente auszuscheiden und auf den bleibenden Gewinn hinzu¬
weisen, den man auch der neuen Richtung verdankt; man nimmt überall wahr,
daß die Urtheile das Resultat sehr ernster Studien und einer umfassenden mu¬
sikalischen Empfänglichkeit sind. Leider hat der Verfasser den guten Eindruck
seines Buchs durch das poetische Beiwerk verkümmert, das hart an die Grenze
des guten Geschmacks stößt und nicht selten darüber hinausgeht. Ein dritter
Kritiker, Wolf v. Ehrcnstein, bespricht "die Kirchenmusik im Verhältniß
zum gegenwärtigen Hörer" und tadelt die Anwendung künstlicher Formen beim
Gottesdienst, der doch gerade dazu bestimmt sei. die Masse des gebildeten und
ungebildeten Publicums zu gleicher Andacht zu vereinen. Wir können
diesem Tadel nicht beipflichten. Bon dem Wort, das in der Kirche
gesprochen wird, verlangen wir allerdings, daß es jedermann verstündlich
sei, weil es sonst keine Wirkung thun würde; anders ist es mit der
Musik, die nur eine Stimmung und zwar wo möglich die Ahnung eines
höhern Lebens hervorrufen soll. Durch welche Mittel sie das bewerkstelligt,
ist vollkommen gleichgültig, und am allergleichgültigsten ist, ob das Publikum
sich über diese Mittel Rechenschaft zu geben versteht. Eine andere Frage frei¬
lich, die wir nur aufwerfen, aber nicht beantworten wollen, ist die, ob es
nicht möglich wäre, diese Musik organisch in den protestantischen Cultus zu
verweben. Denn bis jetzt wird sie allerdings nur äußerlich angefügt und
mehr wie ein Concert betrachtet, in dem man sich vom eigentlichen Gottesdienst
erholt. Versuche hat man in dieser Beziehung schon seit Herders Zeit gemacht,
geleistet ist aber noch sehr wenig; hauptsächlich, wie wir glauben, deshalb,
weil man noch immer im Stillen von dem Vorurtheil ausgeht, der Cultus
müsse die Seele nicht erweitern, sondern einengen.

In dem zunächst liegenden Gebiet der bildenden Kunst haben wir einige
Broschüren zu bezeichnen. Adolf Helfferich ("deutsche Kunstbriefe," Ber¬
lin, Springer) weist die Schädlichkeit der Kunst-Stichworte nach. Nachdem in
dem Kunsturtheil die Begriffe Idealismus und Realismus, die doch nur einen
relativen Gegensatz bilden, lange Zeit eine ungebührliche Rolle gespielt, tritt
jetzt statt dessen das Stichwort der "nationalen" Kunst ein. Helfferich weist
ganz richtig nach, daß die Nachwelt zwar in ihrem Urtheil über frühere Lei¬
stungen vom culturhistorischen Gesichtspunkt ausgehen darf; daß es aber alle
Kunst zerstören hieße, wenn der Künstler selbst statt neu zu schaffen diesen Ge¬
sichtspunkt anticipiren wollte. -- In praktischer Beziehung spricht er den Wunsch
aus, daß der Schwerpunkt des Unterrichts in die Werkstatt verlegt würde und
die Schule weiter nichts als eine Ergänzung und Erweiterung der Werkstatt


szerer Kühnheit in das bedenkliche Thema der Zukunftsmusik, er geht von dem
sehr anerkennenswerther Bestreben ans, die Gegensatze so weit als möglich
zu versöhnen, sie zunächst über das zu verständigen, was sie eigentlich wollen,
die unreinen Elemente auszuscheiden und auf den bleibenden Gewinn hinzu¬
weisen, den man auch der neuen Richtung verdankt; man nimmt überall wahr,
daß die Urtheile das Resultat sehr ernster Studien und einer umfassenden mu¬
sikalischen Empfänglichkeit sind. Leider hat der Verfasser den guten Eindruck
seines Buchs durch das poetische Beiwerk verkümmert, das hart an die Grenze
des guten Geschmacks stößt und nicht selten darüber hinausgeht. Ein dritter
Kritiker, Wolf v. Ehrcnstein, bespricht „die Kirchenmusik im Verhältniß
zum gegenwärtigen Hörer" und tadelt die Anwendung künstlicher Formen beim
Gottesdienst, der doch gerade dazu bestimmt sei. die Masse des gebildeten und
ungebildeten Publicums zu gleicher Andacht zu vereinen. Wir können
diesem Tadel nicht beipflichten. Bon dem Wort, das in der Kirche
gesprochen wird, verlangen wir allerdings, daß es jedermann verstündlich
sei, weil es sonst keine Wirkung thun würde; anders ist es mit der
Musik, die nur eine Stimmung und zwar wo möglich die Ahnung eines
höhern Lebens hervorrufen soll. Durch welche Mittel sie das bewerkstelligt,
ist vollkommen gleichgültig, und am allergleichgültigsten ist, ob das Publikum
sich über diese Mittel Rechenschaft zu geben versteht. Eine andere Frage frei¬
lich, die wir nur aufwerfen, aber nicht beantworten wollen, ist die, ob es
nicht möglich wäre, diese Musik organisch in den protestantischen Cultus zu
verweben. Denn bis jetzt wird sie allerdings nur äußerlich angefügt und
mehr wie ein Concert betrachtet, in dem man sich vom eigentlichen Gottesdienst
erholt. Versuche hat man in dieser Beziehung schon seit Herders Zeit gemacht,
geleistet ist aber noch sehr wenig; hauptsächlich, wie wir glauben, deshalb,
weil man noch immer im Stillen von dem Vorurtheil ausgeht, der Cultus
müsse die Seele nicht erweitern, sondern einengen.

In dem zunächst liegenden Gebiet der bildenden Kunst haben wir einige
Broschüren zu bezeichnen. Adolf Helfferich („deutsche Kunstbriefe," Ber¬
lin, Springer) weist die Schädlichkeit der Kunst-Stichworte nach. Nachdem in
dem Kunsturtheil die Begriffe Idealismus und Realismus, die doch nur einen
relativen Gegensatz bilden, lange Zeit eine ungebührliche Rolle gespielt, tritt
jetzt statt dessen das Stichwort der „nationalen" Kunst ein. Helfferich weist
ganz richtig nach, daß die Nachwelt zwar in ihrem Urtheil über frühere Lei¬
stungen vom culturhistorischen Gesichtspunkt ausgehen darf; daß es aber alle
Kunst zerstören hieße, wenn der Künstler selbst statt neu zu schaffen diesen Ge¬
sichtspunkt anticipiren wollte. — In praktischer Beziehung spricht er den Wunsch
aus, daß der Schwerpunkt des Unterrichts in die Werkstatt verlegt würde und
die Schule weiter nichts als eine Ergänzung und Erweiterung der Werkstatt


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[0286] szerer Kühnheit in das bedenkliche Thema der Zukunftsmusik, er geht von dem sehr anerkennenswerther Bestreben ans, die Gegensatze so weit als möglich zu versöhnen, sie zunächst über das zu verständigen, was sie eigentlich wollen, die unreinen Elemente auszuscheiden und auf den bleibenden Gewinn hinzu¬ weisen, den man auch der neuen Richtung verdankt; man nimmt überall wahr, daß die Urtheile das Resultat sehr ernster Studien und einer umfassenden mu¬ sikalischen Empfänglichkeit sind. Leider hat der Verfasser den guten Eindruck seines Buchs durch das poetische Beiwerk verkümmert, das hart an die Grenze des guten Geschmacks stößt und nicht selten darüber hinausgeht. Ein dritter Kritiker, Wolf v. Ehrcnstein, bespricht „die Kirchenmusik im Verhältniß zum gegenwärtigen Hörer" und tadelt die Anwendung künstlicher Formen beim Gottesdienst, der doch gerade dazu bestimmt sei. die Masse des gebildeten und ungebildeten Publicums zu gleicher Andacht zu vereinen. Wir können diesem Tadel nicht beipflichten. Bon dem Wort, das in der Kirche gesprochen wird, verlangen wir allerdings, daß es jedermann verstündlich sei, weil es sonst keine Wirkung thun würde; anders ist es mit der Musik, die nur eine Stimmung und zwar wo möglich die Ahnung eines höhern Lebens hervorrufen soll. Durch welche Mittel sie das bewerkstelligt, ist vollkommen gleichgültig, und am allergleichgültigsten ist, ob das Publikum sich über diese Mittel Rechenschaft zu geben versteht. Eine andere Frage frei¬ lich, die wir nur aufwerfen, aber nicht beantworten wollen, ist die, ob es nicht möglich wäre, diese Musik organisch in den protestantischen Cultus zu verweben. Denn bis jetzt wird sie allerdings nur äußerlich angefügt und mehr wie ein Concert betrachtet, in dem man sich vom eigentlichen Gottesdienst erholt. Versuche hat man in dieser Beziehung schon seit Herders Zeit gemacht, geleistet ist aber noch sehr wenig; hauptsächlich, wie wir glauben, deshalb, weil man noch immer im Stillen von dem Vorurtheil ausgeht, der Cultus müsse die Seele nicht erweitern, sondern einengen. In dem zunächst liegenden Gebiet der bildenden Kunst haben wir einige Broschüren zu bezeichnen. Adolf Helfferich („deutsche Kunstbriefe," Ber¬ lin, Springer) weist die Schädlichkeit der Kunst-Stichworte nach. Nachdem in dem Kunsturtheil die Begriffe Idealismus und Realismus, die doch nur einen relativen Gegensatz bilden, lange Zeit eine ungebührliche Rolle gespielt, tritt jetzt statt dessen das Stichwort der „nationalen" Kunst ein. Helfferich weist ganz richtig nach, daß die Nachwelt zwar in ihrem Urtheil über frühere Lei¬ stungen vom culturhistorischen Gesichtspunkt ausgehen darf; daß es aber alle Kunst zerstören hieße, wenn der Künstler selbst statt neu zu schaffen diesen Ge¬ sichtspunkt anticipiren wollte. — In praktischer Beziehung spricht er den Wunsch aus, daß der Schwerpunkt des Unterrichts in die Werkstatt verlegt würde und die Schule weiter nichts als eine Ergänzung und Erweiterung der Werkstatt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/286>, abgerufen am 15.05.2024.