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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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überwältigende Kraft und Inbrunst desselben unmöglich. Bei einfältigen Kin¬
dernaturen wie Stilling. die in jedem gleichgültigen Umstand den Finger
Gottes sehen, der nur für ihr Wohl beschäftigt sei. macht sich das freilich
leichter: sie sehen, was sie sehen wollen, und sind glücklich dabei.

Nehmen wir aber einen Mann von starker, ja dämonischer Willenskraft,
von einer Kraft, die er Andern gegenüber nicht selten erprobthat; einen Mann
zugleich von scharfem Blick, der in der Exaltation vielleicht sich täuscht, in
ruhiger Stimmung aber die Gebilde seines Innern von der objectiven Wirk¬
lichkeit sehr wohl zu unterscheiden weiß; lassen wir diesen Mann seine ganze
mächtige Willenskraft im Gebet concentriren. in dem glühenden Drang, der
ihn im Grunde allein bestimmt. Gott unmittelbar zu vernehmen, wie ihn
Abraham, wie ihn Moses, wie ihn Christus vernommen haben. Die Wirkung
bleibt aus. er kann nur annehmen, daß ihm noch der rechte Glaube fehlt.
Da seine WMenskraft zugleich zäh und ausdauernd ist. so richtet sich nun sein
ganzes Trachten danach, diesen Glauben zu erobern. Dazu bedarf er eines
Mittlers, er sucht den Messias, nicht den todten, dessen blasses Abbild wir in
den heiligen Büchern haben, sondern den lebendigen, und da er noch den
Weg zu ihm nicht kennt, so fragt er überall herum, wer ihm etwa denselben
weisen könne.

Die Farbe dieses Suchens gibt nun die Zeit. Die Jugend der sech¬
ziger und siebziger Jahre betrachtete mit großem Interesse alle Erscheinungen
des individuellen Lebens, sie war zu zärtlichen Freundschaftsbündnissen, zu
einem Cultus der Persönlichkeiten geneigt, der auch die gleichgültigen Außen¬
seiten umsnhte. Jeder Freund schickte dem andern sein Portrait oder wenig¬
stens seine Silhouette, und diese Portraits bildeten in jedem Hause, das der
Poesie ergeben war. eine Art von Heiligencapelle. Lavater, mit einem großen
physiognomischen Sinn ausgestattet und unter bedeutenden Künstlern auf¬
gewachsen, trieb dies Streben ins Große. Er suchte die Chiffern der Physio¬
gnomik durch eine Kunst oder Wissenschaft zu lösen, die Seele als den wahren
Inhalt der körperlichen Schale herauszufinden. -- Eine damals gewissermaßen
neu entdeckte Kraft war der schaffende Genius, das endliche Abbild des
Schöpfers aller Welten. Bei jeder Physiognomie nun suchte Lavater zu ent-
Mhseln. wie viel vom Genius, d. h. vom ewigen Leben, in ihm war; als
letzten Zweck dabei hatte er im Auge den universalen Genius, die Erschei-
mmg des Höchsten in der Endlichkeit, den Gottmenschen sich zu vergegenwär¬
tiget,. Er sammelte unzählige Christusbilder, deren keines ihm genngthat.
Aber vielleicht konnte es ihm helfen, auf die Spur des Sendboten zu kom¬
men. Eine Menge Wundcrthütcr gingen aus Erden umher, man schrieb
ihnen jene unmittelbare Wirkung auf Gott zu. die sich ihm selber entzog.
Er wollte nicht voreilig glauben, zunächst kam es ihm nur darauf an. unbe-


Grenzbotm I. 18V0. 3

überwältigende Kraft und Inbrunst desselben unmöglich. Bei einfältigen Kin¬
dernaturen wie Stilling. die in jedem gleichgültigen Umstand den Finger
Gottes sehen, der nur für ihr Wohl beschäftigt sei. macht sich das freilich
leichter: sie sehen, was sie sehen wollen, und sind glücklich dabei.

Nehmen wir aber einen Mann von starker, ja dämonischer Willenskraft,
von einer Kraft, die er Andern gegenüber nicht selten erprobthat; einen Mann
zugleich von scharfem Blick, der in der Exaltation vielleicht sich täuscht, in
ruhiger Stimmung aber die Gebilde seines Innern von der objectiven Wirk¬
lichkeit sehr wohl zu unterscheiden weiß; lassen wir diesen Mann seine ganze
mächtige Willenskraft im Gebet concentriren. in dem glühenden Drang, der
ihn im Grunde allein bestimmt. Gott unmittelbar zu vernehmen, wie ihn
Abraham, wie ihn Moses, wie ihn Christus vernommen haben. Die Wirkung
bleibt aus. er kann nur annehmen, daß ihm noch der rechte Glaube fehlt.
Da seine WMenskraft zugleich zäh und ausdauernd ist. so richtet sich nun sein
ganzes Trachten danach, diesen Glauben zu erobern. Dazu bedarf er eines
Mittlers, er sucht den Messias, nicht den todten, dessen blasses Abbild wir in
den heiligen Büchern haben, sondern den lebendigen, und da er noch den
Weg zu ihm nicht kennt, so fragt er überall herum, wer ihm etwa denselben
weisen könne.

Die Farbe dieses Suchens gibt nun die Zeit. Die Jugend der sech¬
ziger und siebziger Jahre betrachtete mit großem Interesse alle Erscheinungen
des individuellen Lebens, sie war zu zärtlichen Freundschaftsbündnissen, zu
einem Cultus der Persönlichkeiten geneigt, der auch die gleichgültigen Außen¬
seiten umsnhte. Jeder Freund schickte dem andern sein Portrait oder wenig¬
stens seine Silhouette, und diese Portraits bildeten in jedem Hause, das der
Poesie ergeben war. eine Art von Heiligencapelle. Lavater, mit einem großen
physiognomischen Sinn ausgestattet und unter bedeutenden Künstlern auf¬
gewachsen, trieb dies Streben ins Große. Er suchte die Chiffern der Physio¬
gnomik durch eine Kunst oder Wissenschaft zu lösen, die Seele als den wahren
Inhalt der körperlichen Schale herauszufinden. — Eine damals gewissermaßen
neu entdeckte Kraft war der schaffende Genius, das endliche Abbild des
Schöpfers aller Welten. Bei jeder Physiognomie nun suchte Lavater zu ent-
Mhseln. wie viel vom Genius, d. h. vom ewigen Leben, in ihm war; als
letzten Zweck dabei hatte er im Auge den universalen Genius, die Erschei-
mmg des Höchsten in der Endlichkeit, den Gottmenschen sich zu vergegenwär¬
tiget,. Er sammelte unzählige Christusbilder, deren keines ihm genngthat.
Aber vielleicht konnte es ihm helfen, auf die Spur des Sendboten zu kom¬
men. Eine Menge Wundcrthütcr gingen aus Erden umher, man schrieb
ihnen jene unmittelbare Wirkung auf Gott zu. die sich ihm selber entzog.
Er wollte nicht voreilig glauben, zunächst kam es ihm nur darauf an. unbe-


Grenzbotm I. 18V0. 3
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[0029] überwältigende Kraft und Inbrunst desselben unmöglich. Bei einfältigen Kin¬ dernaturen wie Stilling. die in jedem gleichgültigen Umstand den Finger Gottes sehen, der nur für ihr Wohl beschäftigt sei. macht sich das freilich leichter: sie sehen, was sie sehen wollen, und sind glücklich dabei. Nehmen wir aber einen Mann von starker, ja dämonischer Willenskraft, von einer Kraft, die er Andern gegenüber nicht selten erprobthat; einen Mann zugleich von scharfem Blick, der in der Exaltation vielleicht sich täuscht, in ruhiger Stimmung aber die Gebilde seines Innern von der objectiven Wirk¬ lichkeit sehr wohl zu unterscheiden weiß; lassen wir diesen Mann seine ganze mächtige Willenskraft im Gebet concentriren. in dem glühenden Drang, der ihn im Grunde allein bestimmt. Gott unmittelbar zu vernehmen, wie ihn Abraham, wie ihn Moses, wie ihn Christus vernommen haben. Die Wirkung bleibt aus. er kann nur annehmen, daß ihm noch der rechte Glaube fehlt. Da seine WMenskraft zugleich zäh und ausdauernd ist. so richtet sich nun sein ganzes Trachten danach, diesen Glauben zu erobern. Dazu bedarf er eines Mittlers, er sucht den Messias, nicht den todten, dessen blasses Abbild wir in den heiligen Büchern haben, sondern den lebendigen, und da er noch den Weg zu ihm nicht kennt, so fragt er überall herum, wer ihm etwa denselben weisen könne. Die Farbe dieses Suchens gibt nun die Zeit. Die Jugend der sech¬ ziger und siebziger Jahre betrachtete mit großem Interesse alle Erscheinungen des individuellen Lebens, sie war zu zärtlichen Freundschaftsbündnissen, zu einem Cultus der Persönlichkeiten geneigt, der auch die gleichgültigen Außen¬ seiten umsnhte. Jeder Freund schickte dem andern sein Portrait oder wenig¬ stens seine Silhouette, und diese Portraits bildeten in jedem Hause, das der Poesie ergeben war. eine Art von Heiligencapelle. Lavater, mit einem großen physiognomischen Sinn ausgestattet und unter bedeutenden Künstlern auf¬ gewachsen, trieb dies Streben ins Große. Er suchte die Chiffern der Physio¬ gnomik durch eine Kunst oder Wissenschaft zu lösen, die Seele als den wahren Inhalt der körperlichen Schale herauszufinden. — Eine damals gewissermaßen neu entdeckte Kraft war der schaffende Genius, das endliche Abbild des Schöpfers aller Welten. Bei jeder Physiognomie nun suchte Lavater zu ent- Mhseln. wie viel vom Genius, d. h. vom ewigen Leben, in ihm war; als letzten Zweck dabei hatte er im Auge den universalen Genius, die Erschei- mmg des Höchsten in der Endlichkeit, den Gottmenschen sich zu vergegenwär¬ tiget,. Er sammelte unzählige Christusbilder, deren keines ihm genngthat. Aber vielleicht konnte es ihm helfen, auf die Spur des Sendboten zu kom¬ men. Eine Menge Wundcrthütcr gingen aus Erden umher, man schrieb ihnen jene unmittelbare Wirkung auf Gott zu. die sich ihm selber entzog. Er wollte nicht voreilig glauben, zunächst kam es ihm nur darauf an. unbe- Grenzbotm I. 18V0. 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/29>, abgerufen am 16.05.2024.