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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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surabeln und Zufälligen stets vor Augen hatten, sind darin immer viel vor¬
sichtiger gewesen; ihr Eifer für die Thatsachen, ihr fester Glaube an Urkunden
und Zeugnisse hat jeder vorschnellen Konstruktion Widerstand geleistet. Auch
scheint der neueste Versuch ihres Landsmanns wenig Beifall gesunden zu haben.
Aber auch Buckle steht auf dem Boden englischer Bildung, auch er beginnt
mit dem Glauben an die Thatsachen, und seiner Methode liegt diejenige
Wissenschaft zu Grunde, die ausschließlich auf Erfahrung, d. h. eine sorgfältig
controllirte und verallgemeinerte Erfahrung begründet ist, die Statistik.

Indessen ist das Ausland aus ihn nicht ohne Einfluß geblieben. Er hat
eifrig die deutsche Philosophie studirt, freilich nicht ganz mit dem wünschens-
werthen Erfolg, wie schon sein Uebersetzer richtig bemerkt; von den Franzosen
hat er hauptsächlich die sogenannte "positive Philosophie" ins Auge gesaßt.
Diese Philosophie, bekanntlich von Comte erfunden, ist theils aus Einflüssen
der socialistischen Schule, theils aus der modernen Naturforschung hervor¬
gegangen und bemüht sich auch denjenigen Theil der Wissenschaften, die Hegel
unter der "Philosophie des Geistes" aufzählt, in den Kreis der exacten Wissen¬
schaft aufzunehmen, d. h. sie unter das Schema der unabänderlichen Noth¬
wendigkeit zu stellen.

Wie alle Reformatoren fängt Buckle damit an, seine Vorgänger, d. h.
die Geschichtschreiber als Charlatane oder wenigstens als Leute darzustellen,
die nicht wußten was sie wollten. Wenn er der Ansicht ist, daß ihre Erzäh¬
lungen von Königen, Helden u. s. w., den Gebildeten nicht interessiren kön¬
nen, daß dazu kein großes Talent gehört, und daß sich unter den Historikern
niemals so bedeutende Köpfe vorgefunden haben wie unter den Naturforschern,
so ist das eine Sache, die man füglich dahingestellt sein lassen kann. Zu
tadeln ist er aber, daß er sein Auge vor den Thatsachen verschließt; daß er
seine Methode sür etwas ganz Neues hält, während sie doch in den nöthigen
Grenzen schon allgemein ausgeübt worden ist. Denn welcher Historiker von
einigem Werth, der eine Zeit behandelt, in welcher bereits statistische Tabellen
angefertigt wurden, hätte es versäumt, diese Tabellen zu benutzen! Ja seit
wenigstens fünfzig Jahren geht das eifrigste Bestreben auch derjenigen Histo¬
riker, die eine frühere Zeit behandeln, dahin, durch Auffindung einzelner Do°
cumente und durch Combination derselben nach Gesetzen der Erfahrung und
des Begriffs diese Tabellen zu ergänzen. Daß es zu den Zeiten des Königs
David für Gotteslästerung galt, statistische Tabellen anzuserti^er, und daß Je-
hova einen derartigen Versuch mit einer furchtbaren Pest bestrafte, dasür kön¬
nen doch unsere Historiker nicht. -- Wo hätte ferner einer unserer namhaften
Geschichtschreiber, der sich mit Culturgeschichte befaßt, versäumt, die Fort¬
schritte der Aufklärung nachzuweisen! nicht blos an den Schriften, die dafür
wirkten, sondern auch an den Ueberlieferungen des juristischen und socialen


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surabeln und Zufälligen stets vor Augen hatten, sind darin immer viel vor¬
sichtiger gewesen; ihr Eifer für die Thatsachen, ihr fester Glaube an Urkunden
und Zeugnisse hat jeder vorschnellen Konstruktion Widerstand geleistet. Auch
scheint der neueste Versuch ihres Landsmanns wenig Beifall gesunden zu haben.
Aber auch Buckle steht auf dem Boden englischer Bildung, auch er beginnt
mit dem Glauben an die Thatsachen, und seiner Methode liegt diejenige
Wissenschaft zu Grunde, die ausschließlich auf Erfahrung, d. h. eine sorgfältig
controllirte und verallgemeinerte Erfahrung begründet ist, die Statistik.

Indessen ist das Ausland aus ihn nicht ohne Einfluß geblieben. Er hat
eifrig die deutsche Philosophie studirt, freilich nicht ganz mit dem wünschens-
werthen Erfolg, wie schon sein Uebersetzer richtig bemerkt; von den Franzosen
hat er hauptsächlich die sogenannte „positive Philosophie" ins Auge gesaßt.
Diese Philosophie, bekanntlich von Comte erfunden, ist theils aus Einflüssen
der socialistischen Schule, theils aus der modernen Naturforschung hervor¬
gegangen und bemüht sich auch denjenigen Theil der Wissenschaften, die Hegel
unter der „Philosophie des Geistes" aufzählt, in den Kreis der exacten Wissen¬
schaft aufzunehmen, d. h. sie unter das Schema der unabänderlichen Noth¬
wendigkeit zu stellen.

Wie alle Reformatoren fängt Buckle damit an, seine Vorgänger, d. h.
die Geschichtschreiber als Charlatane oder wenigstens als Leute darzustellen,
die nicht wußten was sie wollten. Wenn er der Ansicht ist, daß ihre Erzäh¬
lungen von Königen, Helden u. s. w., den Gebildeten nicht interessiren kön¬
nen, daß dazu kein großes Talent gehört, und daß sich unter den Historikern
niemals so bedeutende Köpfe vorgefunden haben wie unter den Naturforschern,
so ist das eine Sache, die man füglich dahingestellt sein lassen kann. Zu
tadeln ist er aber, daß er sein Auge vor den Thatsachen verschließt; daß er
seine Methode sür etwas ganz Neues hält, während sie doch in den nöthigen
Grenzen schon allgemein ausgeübt worden ist. Denn welcher Historiker von
einigem Werth, der eine Zeit behandelt, in welcher bereits statistische Tabellen
angefertigt wurden, hätte es versäumt, diese Tabellen zu benutzen! Ja seit
wenigstens fünfzig Jahren geht das eifrigste Bestreben auch derjenigen Histo¬
riker, die eine frühere Zeit behandeln, dahin, durch Auffindung einzelner Do°
cumente und durch Combination derselben nach Gesetzen der Erfahrung und
des Begriffs diese Tabellen zu ergänzen. Daß es zu den Zeiten des Königs
David für Gotteslästerung galt, statistische Tabellen anzuserti^er, und daß Je-
hova einen derartigen Versuch mit einer furchtbaren Pest bestrafte, dasür kön¬
nen doch unsere Historiker nicht. — Wo hätte ferner einer unserer namhaften
Geschichtschreiber, der sich mit Culturgeschichte befaßt, versäumt, die Fort¬
schritte der Aufklärung nachzuweisen! nicht blos an den Schriften, die dafür
wirkten, sondern auch an den Ueberlieferungen des juristischen und socialen


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[0311] surabeln und Zufälligen stets vor Augen hatten, sind darin immer viel vor¬ sichtiger gewesen; ihr Eifer für die Thatsachen, ihr fester Glaube an Urkunden und Zeugnisse hat jeder vorschnellen Konstruktion Widerstand geleistet. Auch scheint der neueste Versuch ihres Landsmanns wenig Beifall gesunden zu haben. Aber auch Buckle steht auf dem Boden englischer Bildung, auch er beginnt mit dem Glauben an die Thatsachen, und seiner Methode liegt diejenige Wissenschaft zu Grunde, die ausschließlich auf Erfahrung, d. h. eine sorgfältig controllirte und verallgemeinerte Erfahrung begründet ist, die Statistik. Indessen ist das Ausland aus ihn nicht ohne Einfluß geblieben. Er hat eifrig die deutsche Philosophie studirt, freilich nicht ganz mit dem wünschens- werthen Erfolg, wie schon sein Uebersetzer richtig bemerkt; von den Franzosen hat er hauptsächlich die sogenannte „positive Philosophie" ins Auge gesaßt. Diese Philosophie, bekanntlich von Comte erfunden, ist theils aus Einflüssen der socialistischen Schule, theils aus der modernen Naturforschung hervor¬ gegangen und bemüht sich auch denjenigen Theil der Wissenschaften, die Hegel unter der „Philosophie des Geistes" aufzählt, in den Kreis der exacten Wissen¬ schaft aufzunehmen, d. h. sie unter das Schema der unabänderlichen Noth¬ wendigkeit zu stellen. Wie alle Reformatoren fängt Buckle damit an, seine Vorgänger, d. h. die Geschichtschreiber als Charlatane oder wenigstens als Leute darzustellen, die nicht wußten was sie wollten. Wenn er der Ansicht ist, daß ihre Erzäh¬ lungen von Königen, Helden u. s. w., den Gebildeten nicht interessiren kön¬ nen, daß dazu kein großes Talent gehört, und daß sich unter den Historikern niemals so bedeutende Köpfe vorgefunden haben wie unter den Naturforschern, so ist das eine Sache, die man füglich dahingestellt sein lassen kann. Zu tadeln ist er aber, daß er sein Auge vor den Thatsachen verschließt; daß er seine Methode sür etwas ganz Neues hält, während sie doch in den nöthigen Grenzen schon allgemein ausgeübt worden ist. Denn welcher Historiker von einigem Werth, der eine Zeit behandelt, in welcher bereits statistische Tabellen angefertigt wurden, hätte es versäumt, diese Tabellen zu benutzen! Ja seit wenigstens fünfzig Jahren geht das eifrigste Bestreben auch derjenigen Histo¬ riker, die eine frühere Zeit behandeln, dahin, durch Auffindung einzelner Do° cumente und durch Combination derselben nach Gesetzen der Erfahrung und des Begriffs diese Tabellen zu ergänzen. Daß es zu den Zeiten des Königs David für Gotteslästerung galt, statistische Tabellen anzuserti^er, und daß Je- hova einen derartigen Versuch mit einer furchtbaren Pest bestrafte, dasür kön¬ nen doch unsere Historiker nicht. — Wo hätte ferner einer unserer namhaften Geschichtschreiber, der sich mit Culturgeschichte befaßt, versäumt, die Fort¬ schritte der Aufklärung nachzuweisen! nicht blos an den Schriften, die dafür wirkten, sondern auch an den Ueberlieferungen des juristischen und socialen 38*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/311>, abgerufen am 29.05.2024.