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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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seiner Cultur zu Grunde ging, daß zuerst die Deutschen, dann die Araber
nach dem völligen Untergang der alten Cultur neue Culturgebilde hervor¬
brachten u. s. w. Jetzt sollen wir lernen, daß auf Hippokrates und Aristo¬
teles unmittelbar Galenus, daß auf diesen ungefähr Copernikus folgte, kurz
wir müssen mehr als ein Jahrtausend aus der Geschichte streichen. Da un¬
sere Geschichte aber noch nicht über so viele Jahrtausende zu disponiren hat,
so ist das zu viel verlangt. Alle Achtung vor Aristoteles und Adam Smith,
aber der Historiker wird sich doch auch einigermaßen um die "großen Ver¬
brechen" Alexanders und Napoleons kümmern müssen, wenn er nicht ins Blaue
hinein phantasiren will.

Bei dem Folgenden müssen wir uns kürzer fassen, da ohnehin die Haupt¬
gesichtspunkte nur wiederholt werden. -- Wie vorhin die Sittlichkeit, so wird
im fünften Capitel auch die Religion, Kunst und eigentliche Literatur im Vergleich
mit den exacten Wissenschaften als etwas ziemlich Gleichgiltiges sür den Fort¬
schritt dargestellt. Die Religion erscheint als bloßer Ausdruck des Volksgeistes,
was bis zu einem gewissen Grade richtig ist, wobei Buckle aber wieder das
Princip der Wechselwirkung übersieht. Das ganze Capitel ist mit einer gren¬
zenlosen Oberflächlichkeit behandelt und namentlich die Auffassung der Poesie
spricht für eine höchst einseitige Bildung. -- Auch der Einfluß der Regierung
und Gesetzgebung auf die Cultur stellt sich als ganz unbedeutend heraus.

Nun folgt ein Capitel, dessen Inhalt schwer anzugeben ist. Bemerkungen
über die modernen Wilden, Anekdoten über die Leichtgläubigkeit der mittel¬
alterlichen Chronisten undIehnliches. Dann folgt eine Geschichte der englischen
Aufklärung, namentlich des Kampfes gegen die geistliche Gewalt, von der Mitte
des sechzehnten bis zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, die im Einzelnen
sehr viel Instructions enthalt, da hier der Verfasser sein Material wirklich be¬
herrscht, und von der man nur wünschen möchte, daß sie zusammenhängender
wäre. Auch hier fehlt es nicht an Seitenblicken gegen die anderen Geschicht¬
schreiber, die z. B. die Negierung Carls des Zweiten verleumden. Dieser
Fürst sei zwar in der That sehr lasterhaft gewesen, aber gerade seine Laster
hätten sehr viel zum Fortschritt der Aufklärung beigetragen u. s. w. Wenn
das nichts weiter sein soll, als die Erinnerung, über den einen Gesichtspunkt
den andern nicht aus den Augen zu lassen und, wenn man die Schlechtigkeit
jener Regierung geißelt, zugleich zu bemerken, daß in derselben doch auch
manches Gute geschehen sei, so wäre nichts dagegen zu sagen, mehr aber kann
dem Verfasser nicht zugestanden werden.

Es ist ein undankbares Geschäft, über ein Werk ernsten und angestrengten
Fleißes das Endurtheil aussprechen zu müssen, daß sein wirkliches Verdienst
nur in den Nebensachen liegt, daß dagegen alles, woraus es eigentlich Gewicht
legt, als halb wahr oder ganz unwahr zu verwerfen sei. Es ist aber um so


seiner Cultur zu Grunde ging, daß zuerst die Deutschen, dann die Araber
nach dem völligen Untergang der alten Cultur neue Culturgebilde hervor¬
brachten u. s. w. Jetzt sollen wir lernen, daß auf Hippokrates und Aristo¬
teles unmittelbar Galenus, daß auf diesen ungefähr Copernikus folgte, kurz
wir müssen mehr als ein Jahrtausend aus der Geschichte streichen. Da un¬
sere Geschichte aber noch nicht über so viele Jahrtausende zu disponiren hat,
so ist das zu viel verlangt. Alle Achtung vor Aristoteles und Adam Smith,
aber der Historiker wird sich doch auch einigermaßen um die „großen Ver¬
brechen" Alexanders und Napoleons kümmern müssen, wenn er nicht ins Blaue
hinein phantasiren will.

Bei dem Folgenden müssen wir uns kürzer fassen, da ohnehin die Haupt¬
gesichtspunkte nur wiederholt werden. — Wie vorhin die Sittlichkeit, so wird
im fünften Capitel auch die Religion, Kunst und eigentliche Literatur im Vergleich
mit den exacten Wissenschaften als etwas ziemlich Gleichgiltiges sür den Fort¬
schritt dargestellt. Die Religion erscheint als bloßer Ausdruck des Volksgeistes,
was bis zu einem gewissen Grade richtig ist, wobei Buckle aber wieder das
Princip der Wechselwirkung übersieht. Das ganze Capitel ist mit einer gren¬
zenlosen Oberflächlichkeit behandelt und namentlich die Auffassung der Poesie
spricht für eine höchst einseitige Bildung. — Auch der Einfluß der Regierung
und Gesetzgebung auf die Cultur stellt sich als ganz unbedeutend heraus.

Nun folgt ein Capitel, dessen Inhalt schwer anzugeben ist. Bemerkungen
über die modernen Wilden, Anekdoten über die Leichtgläubigkeit der mittel¬
alterlichen Chronisten undIehnliches. Dann folgt eine Geschichte der englischen
Aufklärung, namentlich des Kampfes gegen die geistliche Gewalt, von der Mitte
des sechzehnten bis zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, die im Einzelnen
sehr viel Instructions enthalt, da hier der Verfasser sein Material wirklich be¬
herrscht, und von der man nur wünschen möchte, daß sie zusammenhängender
wäre. Auch hier fehlt es nicht an Seitenblicken gegen die anderen Geschicht¬
schreiber, die z. B. die Negierung Carls des Zweiten verleumden. Dieser
Fürst sei zwar in der That sehr lasterhaft gewesen, aber gerade seine Laster
hätten sehr viel zum Fortschritt der Aufklärung beigetragen u. s. w. Wenn
das nichts weiter sein soll, als die Erinnerung, über den einen Gesichtspunkt
den andern nicht aus den Augen zu lassen und, wenn man die Schlechtigkeit
jener Regierung geißelt, zugleich zu bemerken, daß in derselben doch auch
manches Gute geschehen sei, so wäre nichts dagegen zu sagen, mehr aber kann
dem Verfasser nicht zugestanden werden.

Es ist ein undankbares Geschäft, über ein Werk ernsten und angestrengten
Fleißes das Endurtheil aussprechen zu müssen, daß sein wirkliches Verdienst
nur in den Nebensachen liegt, daß dagegen alles, woraus es eigentlich Gewicht
legt, als halb wahr oder ganz unwahr zu verwerfen sei. Es ist aber um so


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[0320] seiner Cultur zu Grunde ging, daß zuerst die Deutschen, dann die Araber nach dem völligen Untergang der alten Cultur neue Culturgebilde hervor¬ brachten u. s. w. Jetzt sollen wir lernen, daß auf Hippokrates und Aristo¬ teles unmittelbar Galenus, daß auf diesen ungefähr Copernikus folgte, kurz wir müssen mehr als ein Jahrtausend aus der Geschichte streichen. Da un¬ sere Geschichte aber noch nicht über so viele Jahrtausende zu disponiren hat, so ist das zu viel verlangt. Alle Achtung vor Aristoteles und Adam Smith, aber der Historiker wird sich doch auch einigermaßen um die „großen Ver¬ brechen" Alexanders und Napoleons kümmern müssen, wenn er nicht ins Blaue hinein phantasiren will. Bei dem Folgenden müssen wir uns kürzer fassen, da ohnehin die Haupt¬ gesichtspunkte nur wiederholt werden. — Wie vorhin die Sittlichkeit, so wird im fünften Capitel auch die Religion, Kunst und eigentliche Literatur im Vergleich mit den exacten Wissenschaften als etwas ziemlich Gleichgiltiges sür den Fort¬ schritt dargestellt. Die Religion erscheint als bloßer Ausdruck des Volksgeistes, was bis zu einem gewissen Grade richtig ist, wobei Buckle aber wieder das Princip der Wechselwirkung übersieht. Das ganze Capitel ist mit einer gren¬ zenlosen Oberflächlichkeit behandelt und namentlich die Auffassung der Poesie spricht für eine höchst einseitige Bildung. — Auch der Einfluß der Regierung und Gesetzgebung auf die Cultur stellt sich als ganz unbedeutend heraus. Nun folgt ein Capitel, dessen Inhalt schwer anzugeben ist. Bemerkungen über die modernen Wilden, Anekdoten über die Leichtgläubigkeit der mittel¬ alterlichen Chronisten undIehnliches. Dann folgt eine Geschichte der englischen Aufklärung, namentlich des Kampfes gegen die geistliche Gewalt, von der Mitte des sechzehnten bis zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, die im Einzelnen sehr viel Instructions enthalt, da hier der Verfasser sein Material wirklich be¬ herrscht, und von der man nur wünschen möchte, daß sie zusammenhängender wäre. Auch hier fehlt es nicht an Seitenblicken gegen die anderen Geschicht¬ schreiber, die z. B. die Negierung Carls des Zweiten verleumden. Dieser Fürst sei zwar in der That sehr lasterhaft gewesen, aber gerade seine Laster hätten sehr viel zum Fortschritt der Aufklärung beigetragen u. s. w. Wenn das nichts weiter sein soll, als die Erinnerung, über den einen Gesichtspunkt den andern nicht aus den Augen zu lassen und, wenn man die Schlechtigkeit jener Regierung geißelt, zugleich zu bemerken, daß in derselben doch auch manches Gute geschehen sei, so wäre nichts dagegen zu sagen, mehr aber kann dem Verfasser nicht zugestanden werden. Es ist ein undankbares Geschäft, über ein Werk ernsten und angestrengten Fleißes das Endurtheil aussprechen zu müssen, daß sein wirkliches Verdienst nur in den Nebensachen liegt, daß dagegen alles, woraus es eigentlich Gewicht legt, als halb wahr oder ganz unwahr zu verwerfen sei. Es ist aber um so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/320>, abgerufen am 14.05.2024.