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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Preußen schwebt zu oft in dein unglückseligen Wahn, es genüge bereits
ein schönes Heer zu haben. Unter Friedrich Wilhelm I.. auch 1805, war
das Heer so gut als möglich, und doch war Preußen der schlechtesten Be¬
handlung ausgesetzt. Der bloße Besitz der Waffe thut nichts, wenn sie
nicht in staatsmännischen und entschlossenen Händen ist. Die französische
Armee ist immer gut gewesen, Frankreich stand aber von 1815 -- 1850 in
Europa äußerst schwach. Wodurch hat Napoleon in den letzten Jahren so
ungeheure Erfolge errungen? Dadurch daß er Sinn für die Realität der
Dinge hat; dadurch daß er sein eigenes Volk und den Geist der andern
Völker zu berechnen versteht. Freilich hat er auch darin Fehler begangen,
Fehler der schlimmsten Art, aber wer Sinn besitzt für die Realität der Dinge
der weiß diese Fehler zu corrigiren. Auch seine Politik ni den beiden letzten
Monaten, dies durchgreifende rücksichtslose und dabei doch maßvolle Vorgehen
gegen die Kirche, hat es nicht für unsere Zeit, wo, wie es scheint, Niemand
etwas will, ohne zugleich das Gegentheil zu wollen, etwas Bezauberndes?
Schlimm genug, daß der Zauberer für uns am gefährlichsten ist! Napoleon
hat durch seine jetzige Haltung nicht bloß nach außen gewonnen, er hat auch
seine Stellung im Innern sehr bedeutend befestigt. Sein gefährlichster Geg¬
ner war der Orleanismus, der die ehrbaren gesetzten Leute des Staats um¬
faßte; wenn aber die Herrn Orlcanisten nichts Klügeres zu thun wissen, als
die Vertreter des Pfaffenthums in die Akademie aufzunehmen, oder sich vom
Grasen Chambord salbungsvolle Briefe schreiben zu lassen > so werden sie
bald ebenso ein Kinderspott sein wie ihre Vorgänger, die Legitimisten.

Die Gefahr, die uns von Napoleon droht, rückt täglich näher; natürlich
will er die Nhcingrenze, und da wir ihm zum Ersatz derselben nichts anderes
zu bieten haben, da Preußen nicht blos gegen Deutschland, sondern gegen sich
selbst die Verpflichtung hat. auch mit Gefahr seines Untergangs als Vertreter
Deutschlands die Nhcingrenze zu erhalten, so ist an einen Vertrag mit Frank¬
reich nicht zu denken. Die Gefahr ist aber auch nicht so groß, wenn es Preu¬
ßen gelingt, Deutschland zu einigen. Den Weg dazu hat es mit seinen An¬
trügen am Bundestag vollkommen richtig und correct bezeichnet. Es ist aber
ein ganz falsches Mittel, wenn es, um auf demselben vorwärts zu kommen,
sich in den Mantel der Bescheidenheit hüllt, der das Vertrauen nicht vermehrt,
wohl aber die Achtung-vermindert. Es hat seinen Bundesgenossen, nament¬
lich Oestreich reinen Wein einzuschenken, es hat ihm zu zeigen, daß es die
beiderseitige Lage vollkommen durchschaut und die Hilfe, die es ihm bringen
kann, nicht unterschätzt; es hat jede ungerechtfertigte Forderung, z. B. die
Wiederaufnahme der alten italienischen Eroberungsgelüste, kurzweg zurückzu¬
weisen und ganz genau das Maß der Solidarität festzustellen. Vor allen
Dingen, es hat seine gesammte Politik den Augen der Nation offen darzu-


Grenzboten I. 1860. 47

Preußen schwebt zu oft in dein unglückseligen Wahn, es genüge bereits
ein schönes Heer zu haben. Unter Friedrich Wilhelm I.. auch 1805, war
das Heer so gut als möglich, und doch war Preußen der schlechtesten Be¬
handlung ausgesetzt. Der bloße Besitz der Waffe thut nichts, wenn sie
nicht in staatsmännischen und entschlossenen Händen ist. Die französische
Armee ist immer gut gewesen, Frankreich stand aber von 1815 — 1850 in
Europa äußerst schwach. Wodurch hat Napoleon in den letzten Jahren so
ungeheure Erfolge errungen? Dadurch daß er Sinn für die Realität der
Dinge hat; dadurch daß er sein eigenes Volk und den Geist der andern
Völker zu berechnen versteht. Freilich hat er auch darin Fehler begangen,
Fehler der schlimmsten Art, aber wer Sinn besitzt für die Realität der Dinge
der weiß diese Fehler zu corrigiren. Auch seine Politik ni den beiden letzten
Monaten, dies durchgreifende rücksichtslose und dabei doch maßvolle Vorgehen
gegen die Kirche, hat es nicht für unsere Zeit, wo, wie es scheint, Niemand
etwas will, ohne zugleich das Gegentheil zu wollen, etwas Bezauberndes?
Schlimm genug, daß der Zauberer für uns am gefährlichsten ist! Napoleon
hat durch seine jetzige Haltung nicht bloß nach außen gewonnen, er hat auch
seine Stellung im Innern sehr bedeutend befestigt. Sein gefährlichster Geg¬
ner war der Orleanismus, der die ehrbaren gesetzten Leute des Staats um¬
faßte; wenn aber die Herrn Orlcanisten nichts Klügeres zu thun wissen, als
die Vertreter des Pfaffenthums in die Akademie aufzunehmen, oder sich vom
Grasen Chambord salbungsvolle Briefe schreiben zu lassen > so werden sie
bald ebenso ein Kinderspott sein wie ihre Vorgänger, die Legitimisten.

Die Gefahr, die uns von Napoleon droht, rückt täglich näher; natürlich
will er die Nhcingrenze, und da wir ihm zum Ersatz derselben nichts anderes
zu bieten haben, da Preußen nicht blos gegen Deutschland, sondern gegen sich
selbst die Verpflichtung hat. auch mit Gefahr seines Untergangs als Vertreter
Deutschlands die Nhcingrenze zu erhalten, so ist an einen Vertrag mit Frank¬
reich nicht zu denken. Die Gefahr ist aber auch nicht so groß, wenn es Preu¬
ßen gelingt, Deutschland zu einigen. Den Weg dazu hat es mit seinen An¬
trügen am Bundestag vollkommen richtig und correct bezeichnet. Es ist aber
ein ganz falsches Mittel, wenn es, um auf demselben vorwärts zu kommen,
sich in den Mantel der Bescheidenheit hüllt, der das Vertrauen nicht vermehrt,
wohl aber die Achtung-vermindert. Es hat seinen Bundesgenossen, nament¬
lich Oestreich reinen Wein einzuschenken, es hat ihm zu zeigen, daß es die
beiderseitige Lage vollkommen durchschaut und die Hilfe, die es ihm bringen
kann, nicht unterschätzt; es hat jede ungerechtfertigte Forderung, z. B. die
Wiederaufnahme der alten italienischen Eroberungsgelüste, kurzweg zurückzu¬
weisen und ganz genau das Maß der Solidarität festzustellen. Vor allen
Dingen, es hat seine gesammte Politik den Augen der Nation offen darzu-


Grenzboten I. 1860. 47
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[0381] Preußen schwebt zu oft in dein unglückseligen Wahn, es genüge bereits ein schönes Heer zu haben. Unter Friedrich Wilhelm I.. auch 1805, war das Heer so gut als möglich, und doch war Preußen der schlechtesten Be¬ handlung ausgesetzt. Der bloße Besitz der Waffe thut nichts, wenn sie nicht in staatsmännischen und entschlossenen Händen ist. Die französische Armee ist immer gut gewesen, Frankreich stand aber von 1815 — 1850 in Europa äußerst schwach. Wodurch hat Napoleon in den letzten Jahren so ungeheure Erfolge errungen? Dadurch daß er Sinn für die Realität der Dinge hat; dadurch daß er sein eigenes Volk und den Geist der andern Völker zu berechnen versteht. Freilich hat er auch darin Fehler begangen, Fehler der schlimmsten Art, aber wer Sinn besitzt für die Realität der Dinge der weiß diese Fehler zu corrigiren. Auch seine Politik ni den beiden letzten Monaten, dies durchgreifende rücksichtslose und dabei doch maßvolle Vorgehen gegen die Kirche, hat es nicht für unsere Zeit, wo, wie es scheint, Niemand etwas will, ohne zugleich das Gegentheil zu wollen, etwas Bezauberndes? Schlimm genug, daß der Zauberer für uns am gefährlichsten ist! Napoleon hat durch seine jetzige Haltung nicht bloß nach außen gewonnen, er hat auch seine Stellung im Innern sehr bedeutend befestigt. Sein gefährlichster Geg¬ ner war der Orleanismus, der die ehrbaren gesetzten Leute des Staats um¬ faßte; wenn aber die Herrn Orlcanisten nichts Klügeres zu thun wissen, als die Vertreter des Pfaffenthums in die Akademie aufzunehmen, oder sich vom Grasen Chambord salbungsvolle Briefe schreiben zu lassen > so werden sie bald ebenso ein Kinderspott sein wie ihre Vorgänger, die Legitimisten. Die Gefahr, die uns von Napoleon droht, rückt täglich näher; natürlich will er die Nhcingrenze, und da wir ihm zum Ersatz derselben nichts anderes zu bieten haben, da Preußen nicht blos gegen Deutschland, sondern gegen sich selbst die Verpflichtung hat. auch mit Gefahr seines Untergangs als Vertreter Deutschlands die Nhcingrenze zu erhalten, so ist an einen Vertrag mit Frank¬ reich nicht zu denken. Die Gefahr ist aber auch nicht so groß, wenn es Preu¬ ßen gelingt, Deutschland zu einigen. Den Weg dazu hat es mit seinen An¬ trügen am Bundestag vollkommen richtig und correct bezeichnet. Es ist aber ein ganz falsches Mittel, wenn es, um auf demselben vorwärts zu kommen, sich in den Mantel der Bescheidenheit hüllt, der das Vertrauen nicht vermehrt, wohl aber die Achtung-vermindert. Es hat seinen Bundesgenossen, nament¬ lich Oestreich reinen Wein einzuschenken, es hat ihm zu zeigen, daß es die beiderseitige Lage vollkommen durchschaut und die Hilfe, die es ihm bringen kann, nicht unterschätzt; es hat jede ungerechtfertigte Forderung, z. B. die Wiederaufnahme der alten italienischen Eroberungsgelüste, kurzweg zurückzu¬ weisen und ganz genau das Maß der Solidarität festzustellen. Vor allen Dingen, es hat seine gesammte Politik den Augen der Nation offen darzu- Grenzboten I. 1860. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/381>, abgerufen am 30.05.2024.