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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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legen. Insofern ist das vorige Jahr nicht ohne Früchte geblieben, daß von
einer Rheinbundspolitik der mittlern Staaten nicht die Rede sein kann, und
eine defensive deutsche Kriegsordnung nach Maßgabe der preußischen Vorschläge
würde nicht blos von einer europäischen Koalition gedeckt, sondern auch von
Napoleon respectirt werden, weil er in ihr wiederum eine Realität sähe.

Wenn sich die preußische Negierung entschließt, das, was sie will nach
außen und nach innen, genau zu formuliren und sich unzweideutig darüber
ausspricht, daß dieser Wille auch durchgesetzt werden soll; wenn sie die dazu
nothwendigen einleitenden Schritte (z, B. in Bezug auf das Herrenhaus) so¬
fort vollzieht (es ist Gefahr im Verzüge), so wird die Landesvertretung ihr
die Mittel, groß aufzutreten, nicht weigern. Wenn sie sich aber hinter for¬
melle Disstinctionen, "Executive" und "Legislative" u. tgi. verschanzt, so hat
der Landtag sehr wohl zu überlegen, eine wie furchtbare Verantwortlichkeit
auf ihm lastet. Er hat vor allen Dingen zu überlegen, daß in einem civili-
sirten Staat das Heer nicht Zweck, sondern nur Mittel sein darf. --

Denen aber, die in Deutschland den preußischen Verhandlungen zusehen,
mit dem Gefühl, unbetheiligte Zuschauer zu sein, rufen wir mit den Worten
der oben erwähnten Flugschrift zu: "Ehe wir nicht eine klare Definition haben
von dem, was wir wollen, können wir nicht sagen, daß wir etwas wollen.
Eine Centralgewalt ohne Einigung über das Subject, das sie haben, ein Par¬
lament ohne Centralgewalt, die seine Beschlüsse sichern soll, das sind Bilder,
aber keine politischen Begriffe. Eine Einigung, deren Proceß erfolgen soll
gegen die Gesetze der Mathematik und Physik, paßt wenigstens nicht als Zweck
in diese reale Welt. Niemand kann zwei mächtige Organismen in einen dritten
verschmelzen. Niemand in eine Einheit zwei Zahlen zusammenrechnen, von
denen jede eine andere Sache, eine andere Qualität bedeutet. Wen sein Ge¬
fühl verhindert, solche Grundwahrheiten anzuerkennen, der wünscht zwar die
Einheit, aber er will sie nicht, und was ihn betrifft, so werden wir in alle
Zukunft jenes schmcrzweckende Lied singen können, welches fragend nach dem
Äaterlande sucht, und mit seiner Sehnsucht niemals über das Sollen hinaus¬
kommt."




legen. Insofern ist das vorige Jahr nicht ohne Früchte geblieben, daß von
einer Rheinbundspolitik der mittlern Staaten nicht die Rede sein kann, und
eine defensive deutsche Kriegsordnung nach Maßgabe der preußischen Vorschläge
würde nicht blos von einer europäischen Koalition gedeckt, sondern auch von
Napoleon respectirt werden, weil er in ihr wiederum eine Realität sähe.

Wenn sich die preußische Negierung entschließt, das, was sie will nach
außen und nach innen, genau zu formuliren und sich unzweideutig darüber
ausspricht, daß dieser Wille auch durchgesetzt werden soll; wenn sie die dazu
nothwendigen einleitenden Schritte (z, B. in Bezug auf das Herrenhaus) so¬
fort vollzieht (es ist Gefahr im Verzüge), so wird die Landesvertretung ihr
die Mittel, groß aufzutreten, nicht weigern. Wenn sie sich aber hinter for¬
melle Disstinctionen, „Executive" und „Legislative" u. tgi. verschanzt, so hat
der Landtag sehr wohl zu überlegen, eine wie furchtbare Verantwortlichkeit
auf ihm lastet. Er hat vor allen Dingen zu überlegen, daß in einem civili-
sirten Staat das Heer nicht Zweck, sondern nur Mittel sein darf. —

Denen aber, die in Deutschland den preußischen Verhandlungen zusehen,
mit dem Gefühl, unbetheiligte Zuschauer zu sein, rufen wir mit den Worten
der oben erwähnten Flugschrift zu: „Ehe wir nicht eine klare Definition haben
von dem, was wir wollen, können wir nicht sagen, daß wir etwas wollen.
Eine Centralgewalt ohne Einigung über das Subject, das sie haben, ein Par¬
lament ohne Centralgewalt, die seine Beschlüsse sichern soll, das sind Bilder,
aber keine politischen Begriffe. Eine Einigung, deren Proceß erfolgen soll
gegen die Gesetze der Mathematik und Physik, paßt wenigstens nicht als Zweck
in diese reale Welt. Niemand kann zwei mächtige Organismen in einen dritten
verschmelzen. Niemand in eine Einheit zwei Zahlen zusammenrechnen, von
denen jede eine andere Sache, eine andere Qualität bedeutet. Wen sein Ge¬
fühl verhindert, solche Grundwahrheiten anzuerkennen, der wünscht zwar die
Einheit, aber er will sie nicht, und was ihn betrifft, so werden wir in alle
Zukunft jenes schmcrzweckende Lied singen können, welches fragend nach dem
Äaterlande sucht, und mit seiner Sehnsucht niemals über das Sollen hinaus¬
kommt."




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[0382] legen. Insofern ist das vorige Jahr nicht ohne Früchte geblieben, daß von einer Rheinbundspolitik der mittlern Staaten nicht die Rede sein kann, und eine defensive deutsche Kriegsordnung nach Maßgabe der preußischen Vorschläge würde nicht blos von einer europäischen Koalition gedeckt, sondern auch von Napoleon respectirt werden, weil er in ihr wiederum eine Realität sähe. Wenn sich die preußische Negierung entschließt, das, was sie will nach außen und nach innen, genau zu formuliren und sich unzweideutig darüber ausspricht, daß dieser Wille auch durchgesetzt werden soll; wenn sie die dazu nothwendigen einleitenden Schritte (z, B. in Bezug auf das Herrenhaus) so¬ fort vollzieht (es ist Gefahr im Verzüge), so wird die Landesvertretung ihr die Mittel, groß aufzutreten, nicht weigern. Wenn sie sich aber hinter for¬ melle Disstinctionen, „Executive" und „Legislative" u. tgi. verschanzt, so hat der Landtag sehr wohl zu überlegen, eine wie furchtbare Verantwortlichkeit auf ihm lastet. Er hat vor allen Dingen zu überlegen, daß in einem civili- sirten Staat das Heer nicht Zweck, sondern nur Mittel sein darf. — Denen aber, die in Deutschland den preußischen Verhandlungen zusehen, mit dem Gefühl, unbetheiligte Zuschauer zu sein, rufen wir mit den Worten der oben erwähnten Flugschrift zu: „Ehe wir nicht eine klare Definition haben von dem, was wir wollen, können wir nicht sagen, daß wir etwas wollen. Eine Centralgewalt ohne Einigung über das Subject, das sie haben, ein Par¬ lament ohne Centralgewalt, die seine Beschlüsse sichern soll, das sind Bilder, aber keine politischen Begriffe. Eine Einigung, deren Proceß erfolgen soll gegen die Gesetze der Mathematik und Physik, paßt wenigstens nicht als Zweck in diese reale Welt. Niemand kann zwei mächtige Organismen in einen dritten verschmelzen. Niemand in eine Einheit zwei Zahlen zusammenrechnen, von denen jede eine andere Sache, eine andere Qualität bedeutet. Wen sein Ge¬ fühl verhindert, solche Grundwahrheiten anzuerkennen, der wünscht zwar die Einheit, aber er will sie nicht, und was ihn betrifft, so werden wir in alle Zukunft jenes schmcrzweckende Lied singen können, welches fragend nach dem Äaterlande sucht, und mit seiner Sehnsucht niemals über das Sollen hinaus¬ kommt."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/382>, abgerufen am 14.05.2024.