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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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liebe Bücher zu verbieten, habe er zwar im Geiste seiner Zeit erinnert, doch
nie wirklich eine Klage gegen Lessing anhängig gemacht. In dieser Stellung,
in einem Kampf, in dem er zuletzt nothwendig unterliegen mußte, ist Göze
seinem Retter so ehrwürdig, daß er ihn eine tragische Gestalt nennt und mit
Götz von Berlichingen vergleicht. Wir unsres Orts möchten nur wünschen,
daß, so gewiß der eine der letzte Ritter war, der andere der letzte Zions-
Wächter gewesen wäre.

Von jenen Beschuldigungen wider Göze war die der Heuchelei am leich¬
testen zu entkräften, wie sie denn wol auch selten im Ernst hervorgebracht sein
mag. Auch Gelehrsamkeit besaß er gewiß für einen Mann seines Standpunktes
genug. Daß man aber selbst bei noch weit größrer Gelehrsamkeit, als dem
Hauptpastor zu Gebote stand, dennoch bornirt sein kann, ist eine bekannte
Sache. Und bornirt heißen wir Göze, sofern er über den engen Horizont
eines damals von der besten Zeitbildung längst überschrittenen Standpunktes
nicht hinaussah und darum außerhalb desselben nur Unglauben und Verder¬
ben zu sehen meinte. Ob einem Manne dieses Schlages füglich Geist zuge¬
schrieben werden könne, hängt davon ab, was man unter Geist versteht, und
wenn ihn der Verf. sogar hin und wieder witzig findet, so ist das Geschmacks¬
sache. Daß in der Art, wie Göze Lessingen in's Gewissen redete, worin An¬
dere eine widerwärtige pfäffische Zudringlichkeit fanden, der Verf. eine wür¬
dige, ja rührende Sorge um das Seelenheil deZ talentvollen Mannes sieht,
das hängt mit einem geistlichen Geschmäckchen zusammen, das bei ihm durch
alle Belesenheit und Bildung sehr stark durchschlägt und ihn zur Lösung der
Aufgabe, die er sich gesetzt hat, in dem Streit zwischen Göze und Lessing ein
entscheidendes Wort zu reden, schließlich unfähig macht. Wenn Göze am
Schlüsse seiner zweiten Gegenschrift den "lieben Herrn Hofrath" beichtväterlich
bei Seite nimmt, ihn an das jüngste Gericht und die feuerflammenden Augen
des Richters mahnt, vor dem die Seelen der in Folge von Lessings Heraus¬
gabe der wolfenbüttler Fragmente im Unglauben Verstorbenen ihn verklagen
werden, so finden wir ein solches Gebühren widerwärtig oder lächerlich, je
nachdem. Sehen wir auf den Contrast, daß ein wenn auch wackerer, doch
jedenfalls in Kindervorstellungen befangener Mensch dem tiefsten Geiste unter
den Zeitgenossen, der zugleich an sittlicher Gediegenheit keinem Andern nach¬
stand, meisternd gegenübertrat, ihn mit Vorstellungen zu schrecken suchte, die
zu den allcräußcrlichsten Hülsen der von jenem längst viel reiner erkannten
Wahrheit gehörten, so finden wir das lächerlich; erwägen wir aber das Selbst¬
vertrauen, die Verblendung und Anmaßung, die dazu gehörten, ein solches
Mißverhältniß gar nicht zu ahnen, so wird uns das Schauspiel widerwärtig.
So rückte Göze später gegen -den Werther mit den Sprüchen aus: Wer ein
Weib ansiehet, ihr zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in


Grenzvotm I. 1860, 57

liebe Bücher zu verbieten, habe er zwar im Geiste seiner Zeit erinnert, doch
nie wirklich eine Klage gegen Lessing anhängig gemacht. In dieser Stellung,
in einem Kampf, in dem er zuletzt nothwendig unterliegen mußte, ist Göze
seinem Retter so ehrwürdig, daß er ihn eine tragische Gestalt nennt und mit
Götz von Berlichingen vergleicht. Wir unsres Orts möchten nur wünschen,
daß, so gewiß der eine der letzte Ritter war, der andere der letzte Zions-
Wächter gewesen wäre.

Von jenen Beschuldigungen wider Göze war die der Heuchelei am leich¬
testen zu entkräften, wie sie denn wol auch selten im Ernst hervorgebracht sein
mag. Auch Gelehrsamkeit besaß er gewiß für einen Mann seines Standpunktes
genug. Daß man aber selbst bei noch weit größrer Gelehrsamkeit, als dem
Hauptpastor zu Gebote stand, dennoch bornirt sein kann, ist eine bekannte
Sache. Und bornirt heißen wir Göze, sofern er über den engen Horizont
eines damals von der besten Zeitbildung längst überschrittenen Standpunktes
nicht hinaussah und darum außerhalb desselben nur Unglauben und Verder¬
ben zu sehen meinte. Ob einem Manne dieses Schlages füglich Geist zuge¬
schrieben werden könne, hängt davon ab, was man unter Geist versteht, und
wenn ihn der Verf. sogar hin und wieder witzig findet, so ist das Geschmacks¬
sache. Daß in der Art, wie Göze Lessingen in's Gewissen redete, worin An¬
dere eine widerwärtige pfäffische Zudringlichkeit fanden, der Verf. eine wür¬
dige, ja rührende Sorge um das Seelenheil deZ talentvollen Mannes sieht,
das hängt mit einem geistlichen Geschmäckchen zusammen, das bei ihm durch
alle Belesenheit und Bildung sehr stark durchschlägt und ihn zur Lösung der
Aufgabe, die er sich gesetzt hat, in dem Streit zwischen Göze und Lessing ein
entscheidendes Wort zu reden, schließlich unfähig macht. Wenn Göze am
Schlüsse seiner zweiten Gegenschrift den „lieben Herrn Hofrath" beichtväterlich
bei Seite nimmt, ihn an das jüngste Gericht und die feuerflammenden Augen
des Richters mahnt, vor dem die Seelen der in Folge von Lessings Heraus¬
gabe der wolfenbüttler Fragmente im Unglauben Verstorbenen ihn verklagen
werden, so finden wir ein solches Gebühren widerwärtig oder lächerlich, je
nachdem. Sehen wir auf den Contrast, daß ein wenn auch wackerer, doch
jedenfalls in Kindervorstellungen befangener Mensch dem tiefsten Geiste unter
den Zeitgenossen, der zugleich an sittlicher Gediegenheit keinem Andern nach¬
stand, meisternd gegenübertrat, ihn mit Vorstellungen zu schrecken suchte, die
zu den allcräußcrlichsten Hülsen der von jenem längst viel reiner erkannten
Wahrheit gehörten, so finden wir das lächerlich; erwägen wir aber das Selbst¬
vertrauen, die Verblendung und Anmaßung, die dazu gehörten, ein solches
Mißverhältniß gar nicht zu ahnen, so wird uns das Schauspiel widerwärtig.
So rückte Göze später gegen -den Werther mit den Sprüchen aus: Wer ein
Weib ansiehet, ihr zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/461>, abgerufen am 05.06.2024.