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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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schmutzigsten und ungehobeltesten ausgelesen. Der, dem ich mich im Hotel
als Landsmann präsentirte, gähnte mir erst zwei- oder dreimal ins Gesicht,
dann fragte er gemüthlich: "Was wollen Sie denn? Vielleicht ein Schnnps-
chcn?" Er schien es lange nicht begreifen zu können, daß man am hellen lich¬
ten Tage ein Zimmer verlange. Später fand ich, daß die Herren Reisenden
sich die Sache öfters bequemer machen und ohne Weiteres auf den schmählich
eingedrückten Divans des Spcisesaals campiren. Uebrigens bekam ich doch
mein Zimmer und noch dazu, allerdings aus meinen dringenden Wunsch, und
wahrscheinlich auf gütige Verwendung des Herrn Landsmanns, auch ein fri¬
sches Betttuch, zu weiterem Luxus wollte sich jedoch der Majordomus nicht
verstehn. Kaum war ick im Begriff, mich häuslich einzurichten, so pochte es
schon an meiner Thüre, einige merkwürdig aussehende Herren traten ein,
überreichten mir einen Zettel und radebrechten ein so furchtbares Französisch,
daß ich sofort zu dem Schluß kam, sie müßten Engländer sein. Dies bewährte
sich jedoch nicht, denn es waren Amerikaner, Taucher aus Sebastopol, von der
bekannten Gesellschaft, welche die versenkten Schiffe im Hafen hervorholen
will. Um den schlechten Geschäften, die sie dort machten, ein wenig zu Hilfe
zu kommen, gaben sie Vorstellungen in der höheren Wasserspringerkunst, schienen
aber dabei ebenfalls nicht viel mehr zu fischen, wie in Sebastopol. , Froh, an
mir einen Mann des Verständnisses gefunden zu haben, überreichten sie mir
ein Graels-Billet und versprachen treuherzig, mir ihre ganze freie Zeit widmen
zu wollen, wobei sie mit Begeisterung den kalten Grog als ein naturgemäßes
Heilmittel gegen die verderbliche Witterung empfahlen.

Glücklicherweise ward ich aber solchen vielversprechenden Aussichten bald
entrückt. Ich besaß eine Empfehlung an einen Fregattencapitän, nach dessen
Wohnung ich alsbald fuhr. Ich fand bei demselben eine äußerst freundliche
Aufnahme und die ganze liebenswürdige Familie ließ mich durchaus nicht
mehr in das Hotel zurückkehren, sondern setzte sich sofort mit freundlicher Ge¬
waltthätigkeit in den Besitz meiner Effecten und räumte mir ein Zimmer in
ihrem Hause ein. Der Capitän war einer der Hunderte von entlassenen
Seeoffizieren, die jetzt, großentheils in Nicolajeff, theilweise auch in andern
südlichen Städten einer sehr gezwungenen Muße pflegen. Sie sind entlassen
worden, ohne den geringsten Sold, ohne irgend eine Vergütung, blos mit der
Aussicht auf eine dermaleinstige Wiederanstellung. Wer von ihnen kein Ver¬
mögen besitzt, und dies ist bei der Mehrzahl der Fall, der befindet sich in
einer beklagenswerthen Lage. Viele von diesen Männern haben sich zur Ar¬
beit bequemen müssen, sind Schreiber geworden oder schätzen sich glücklich, auf
einem Gute als Prikaschtschik angestellt zu werden; denn zu einem Oeconomie-
beamten bedarf es in Rußland durchaus keiner Kenntniß der Oeconomie.
Auch mein Capitän, der zwar nicht vermögenslos, aber mit einem Häuflein


schmutzigsten und ungehobeltesten ausgelesen. Der, dem ich mich im Hotel
als Landsmann präsentirte, gähnte mir erst zwei- oder dreimal ins Gesicht,
dann fragte er gemüthlich: „Was wollen Sie denn? Vielleicht ein Schnnps-
chcn?" Er schien es lange nicht begreifen zu können, daß man am hellen lich¬
ten Tage ein Zimmer verlange. Später fand ich, daß die Herren Reisenden
sich die Sache öfters bequemer machen und ohne Weiteres auf den schmählich
eingedrückten Divans des Spcisesaals campiren. Uebrigens bekam ich doch
mein Zimmer und noch dazu, allerdings aus meinen dringenden Wunsch, und
wahrscheinlich auf gütige Verwendung des Herrn Landsmanns, auch ein fri¬
sches Betttuch, zu weiterem Luxus wollte sich jedoch der Majordomus nicht
verstehn. Kaum war ick im Begriff, mich häuslich einzurichten, so pochte es
schon an meiner Thüre, einige merkwürdig aussehende Herren traten ein,
überreichten mir einen Zettel und radebrechten ein so furchtbares Französisch,
daß ich sofort zu dem Schluß kam, sie müßten Engländer sein. Dies bewährte
sich jedoch nicht, denn es waren Amerikaner, Taucher aus Sebastopol, von der
bekannten Gesellschaft, welche die versenkten Schiffe im Hafen hervorholen
will. Um den schlechten Geschäften, die sie dort machten, ein wenig zu Hilfe
zu kommen, gaben sie Vorstellungen in der höheren Wasserspringerkunst, schienen
aber dabei ebenfalls nicht viel mehr zu fischen, wie in Sebastopol. , Froh, an
mir einen Mann des Verständnisses gefunden zu haben, überreichten sie mir
ein Graels-Billet und versprachen treuherzig, mir ihre ganze freie Zeit widmen
zu wollen, wobei sie mit Begeisterung den kalten Grog als ein naturgemäßes
Heilmittel gegen die verderbliche Witterung empfahlen.

Glücklicherweise ward ich aber solchen vielversprechenden Aussichten bald
entrückt. Ich besaß eine Empfehlung an einen Fregattencapitän, nach dessen
Wohnung ich alsbald fuhr. Ich fand bei demselben eine äußerst freundliche
Aufnahme und die ganze liebenswürdige Familie ließ mich durchaus nicht
mehr in das Hotel zurückkehren, sondern setzte sich sofort mit freundlicher Ge¬
waltthätigkeit in den Besitz meiner Effecten und räumte mir ein Zimmer in
ihrem Hause ein. Der Capitän war einer der Hunderte von entlassenen
Seeoffizieren, die jetzt, großentheils in Nicolajeff, theilweise auch in andern
südlichen Städten einer sehr gezwungenen Muße pflegen. Sie sind entlassen
worden, ohne den geringsten Sold, ohne irgend eine Vergütung, blos mit der
Aussicht auf eine dermaleinstige Wiederanstellung. Wer von ihnen kein Ver¬
mögen besitzt, und dies ist bei der Mehrzahl der Fall, der befindet sich in
einer beklagenswerthen Lage. Viele von diesen Männern haben sich zur Ar¬
beit bequemen müssen, sind Schreiber geworden oder schätzen sich glücklich, auf
einem Gute als Prikaschtschik angestellt zu werden; denn zu einem Oeconomie-
beamten bedarf es in Rußland durchaus keiner Kenntniß der Oeconomie.
Auch mein Capitän, der zwar nicht vermögenslos, aber mit einem Häuflein


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[0472] schmutzigsten und ungehobeltesten ausgelesen. Der, dem ich mich im Hotel als Landsmann präsentirte, gähnte mir erst zwei- oder dreimal ins Gesicht, dann fragte er gemüthlich: „Was wollen Sie denn? Vielleicht ein Schnnps- chcn?" Er schien es lange nicht begreifen zu können, daß man am hellen lich¬ ten Tage ein Zimmer verlange. Später fand ich, daß die Herren Reisenden sich die Sache öfters bequemer machen und ohne Weiteres auf den schmählich eingedrückten Divans des Spcisesaals campiren. Uebrigens bekam ich doch mein Zimmer und noch dazu, allerdings aus meinen dringenden Wunsch, und wahrscheinlich auf gütige Verwendung des Herrn Landsmanns, auch ein fri¬ sches Betttuch, zu weiterem Luxus wollte sich jedoch der Majordomus nicht verstehn. Kaum war ick im Begriff, mich häuslich einzurichten, so pochte es schon an meiner Thüre, einige merkwürdig aussehende Herren traten ein, überreichten mir einen Zettel und radebrechten ein so furchtbares Französisch, daß ich sofort zu dem Schluß kam, sie müßten Engländer sein. Dies bewährte sich jedoch nicht, denn es waren Amerikaner, Taucher aus Sebastopol, von der bekannten Gesellschaft, welche die versenkten Schiffe im Hafen hervorholen will. Um den schlechten Geschäften, die sie dort machten, ein wenig zu Hilfe zu kommen, gaben sie Vorstellungen in der höheren Wasserspringerkunst, schienen aber dabei ebenfalls nicht viel mehr zu fischen, wie in Sebastopol. , Froh, an mir einen Mann des Verständnisses gefunden zu haben, überreichten sie mir ein Graels-Billet und versprachen treuherzig, mir ihre ganze freie Zeit widmen zu wollen, wobei sie mit Begeisterung den kalten Grog als ein naturgemäßes Heilmittel gegen die verderbliche Witterung empfahlen. Glücklicherweise ward ich aber solchen vielversprechenden Aussichten bald entrückt. Ich besaß eine Empfehlung an einen Fregattencapitän, nach dessen Wohnung ich alsbald fuhr. Ich fand bei demselben eine äußerst freundliche Aufnahme und die ganze liebenswürdige Familie ließ mich durchaus nicht mehr in das Hotel zurückkehren, sondern setzte sich sofort mit freundlicher Ge¬ waltthätigkeit in den Besitz meiner Effecten und räumte mir ein Zimmer in ihrem Hause ein. Der Capitän war einer der Hunderte von entlassenen Seeoffizieren, die jetzt, großentheils in Nicolajeff, theilweise auch in andern südlichen Städten einer sehr gezwungenen Muße pflegen. Sie sind entlassen worden, ohne den geringsten Sold, ohne irgend eine Vergütung, blos mit der Aussicht auf eine dermaleinstige Wiederanstellung. Wer von ihnen kein Ver¬ mögen besitzt, und dies ist bei der Mehrzahl der Fall, der befindet sich in einer beklagenswerthen Lage. Viele von diesen Männern haben sich zur Ar¬ beit bequemen müssen, sind Schreiber geworden oder schätzen sich glücklich, auf einem Gute als Prikaschtschik angestellt zu werden; denn zu einem Oeconomie- beamten bedarf es in Rußland durchaus keiner Kenntniß der Oeconomie. Auch mein Capitän, der zwar nicht vermögenslos, aber mit einem Häuflein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/472>, abgerufen am 30.05.2024.