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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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halten, verliert darüber den Verstand und verfällt auch später noch, als er
endlich befreit und geheilt ist, von Zeit zu> Zeit wieder in Blödsinn. Diese
und ähnliche Geschichten sind schon früher mit mehr oder minder dramatischer
Kraft ausgemalt worden. Aber neu und sehr bedeutend ist das Bild der mehr
und mehr anwachsenden Nachsucht, die sich allmnlig in der Seele des Volkes
festsetzt. Man suche in der Jacquerin, die Dickens als Vorbereitung sür die
Revolution erfunden hat, nicht historische urkundliche Wahrheit, aber es ist
symbolische Wahrheit darin; so hat in der That das Proletariat empfunden,
als ihm der Umschwung der Dinge die Macht über Leben und Tod in die
Hände gab. Sehr fein ist es, daß den Mittelpunkt dieser Gruppe eine Frau
bildet, nicht eine wilde, tobende Bachautin, wie man sich die Furien der
Halle gewöhnlich vorstellt, sondern eine eiserne Natur, in der die Rache sich
zum kalten Fanatismus verhärtet hat und die eine ruhige Außenseite bewahrt.
Das Gemälde dieser Madame Defarge wird bleiben, wie manche andere
Frauenbilder des Dichters, z. B. Mrs. Nickelby und die unsterbliche Sara Gamp.

Wenn Dickens im Allgemeinen in der Composition ziemlich nachlässig
verfährt, so kann man das diesmal nicht sagen; er hat vielmehr jeden ein¬
zelnen Zug sehr sorgfältig berechnet und auch das Kleinste hat seine symbo¬
lische Bedeutung, aber seine Berechnung geht hauptsächlich auf die sinnliche Wir¬
kung aus und übertreibt es daher in den Mitteln. Der Roman enthält wie¬
der trotz seines geringen Umfangs eine zahllose Reihe von Ungeheuern und
Mißgeburten. Der Mann, der im Anfang des Romans dazu bestimmt ist,
jenen Arzt aus seiner einsamen Zelle zu erlösen, träumt fortwährend, daß er
einen Todten aus der Erde ausgrabe und ihn frage, ob er leben wolle u. s. w.
Sein Untergebener, der immer davon redet, daß er ein ehrlicher Geschäfts¬
mann sei, erweist sich später ganz beiläufig und ohne daß es irgend einen
Zweck hätte, nur um den Parallelismus der geträumten und wirklichen Greuel
zu verstärken, als Leichenräuber, und solche Erfindungen mit versteckter Absicht,
die des Dichters unwürdig sind, finden sich noch mehrere. Die Hauptgruppe,
um welche die Erzählungen sich bewegen, ist ohne Farbe und Interesse.

Wir haben schon früher darauf aufmerksam gemacht, daß man sehr
Unrecht thut, Dickens einen Realisten im eigentlichen Sinn zu nennen.
Er hat > zwar im ungewöhnlichen Grade die Macht, das Sinnliche des
Lebens im grellsten Licht zu vergegenwärtigen, aber die Art wie er be¬
obachtet, möchten wir mit seinem eigenen Bilde bezeichnen: daß ein Mann
in einer heftigen Feuersbrunst, in dringender Gefahr von der Menge zer¬
rissen zu werden, sich plötzlich von den umstehenden tausend Gesichtern
jedes einzelne mit allen Details, auf die er sonst gar nicht achten würde,
in die Seele einprägt. Es ist in seinen Bildern selten ein einfaches gesundes
Licht, die Beleuchtung ist in der Regel künstlich concentrirt und hat etwas


halten, verliert darüber den Verstand und verfällt auch später noch, als er
endlich befreit und geheilt ist, von Zeit zu> Zeit wieder in Blödsinn. Diese
und ähnliche Geschichten sind schon früher mit mehr oder minder dramatischer
Kraft ausgemalt worden. Aber neu und sehr bedeutend ist das Bild der mehr
und mehr anwachsenden Nachsucht, die sich allmnlig in der Seele des Volkes
festsetzt. Man suche in der Jacquerin, die Dickens als Vorbereitung sür die
Revolution erfunden hat, nicht historische urkundliche Wahrheit, aber es ist
symbolische Wahrheit darin; so hat in der That das Proletariat empfunden,
als ihm der Umschwung der Dinge die Macht über Leben und Tod in die
Hände gab. Sehr fein ist es, daß den Mittelpunkt dieser Gruppe eine Frau
bildet, nicht eine wilde, tobende Bachautin, wie man sich die Furien der
Halle gewöhnlich vorstellt, sondern eine eiserne Natur, in der die Rache sich
zum kalten Fanatismus verhärtet hat und die eine ruhige Außenseite bewahrt.
Das Gemälde dieser Madame Defarge wird bleiben, wie manche andere
Frauenbilder des Dichters, z. B. Mrs. Nickelby und die unsterbliche Sara Gamp.

Wenn Dickens im Allgemeinen in der Composition ziemlich nachlässig
verfährt, so kann man das diesmal nicht sagen; er hat vielmehr jeden ein¬
zelnen Zug sehr sorgfältig berechnet und auch das Kleinste hat seine symbo¬
lische Bedeutung, aber seine Berechnung geht hauptsächlich auf die sinnliche Wir¬
kung aus und übertreibt es daher in den Mitteln. Der Roman enthält wie¬
der trotz seines geringen Umfangs eine zahllose Reihe von Ungeheuern und
Mißgeburten. Der Mann, der im Anfang des Romans dazu bestimmt ist,
jenen Arzt aus seiner einsamen Zelle zu erlösen, träumt fortwährend, daß er
einen Todten aus der Erde ausgrabe und ihn frage, ob er leben wolle u. s. w.
Sein Untergebener, der immer davon redet, daß er ein ehrlicher Geschäfts¬
mann sei, erweist sich später ganz beiläufig und ohne daß es irgend einen
Zweck hätte, nur um den Parallelismus der geträumten und wirklichen Greuel
zu verstärken, als Leichenräuber, und solche Erfindungen mit versteckter Absicht,
die des Dichters unwürdig sind, finden sich noch mehrere. Die Hauptgruppe,
um welche die Erzählungen sich bewegen, ist ohne Farbe und Interesse.

Wir haben schon früher darauf aufmerksam gemacht, daß man sehr
Unrecht thut, Dickens einen Realisten im eigentlichen Sinn zu nennen.
Er hat > zwar im ungewöhnlichen Grade die Macht, das Sinnliche des
Lebens im grellsten Licht zu vergegenwärtigen, aber die Art wie er be¬
obachtet, möchten wir mit seinem eigenen Bilde bezeichnen: daß ein Mann
in einer heftigen Feuersbrunst, in dringender Gefahr von der Menge zer¬
rissen zu werden, sich plötzlich von den umstehenden tausend Gesichtern
jedes einzelne mit allen Details, auf die er sonst gar nicht achten würde,
in die Seele einprägt. Es ist in seinen Bildern selten ein einfaches gesundes
Licht, die Beleuchtung ist in der Regel künstlich concentrirt und hat etwas


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/484>, abgerufen am 29.05.2024.