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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Phantastisches, die Realität ist ihm nicht Zweck, sondern Mittel; sie dient ihm
nur dazu, die Stimmung, die er mit einer Gewalt anregt wie wenige an¬
dere Dichter, sinnlicher auszuprägen. Es fällt uns eine Stelle aus Martin
Chuzzlewit ein, der überhaupt, was Bilder und Stimmungen betrifft, zu den
glänzendsten, was Charaktere betrifft zu den schwächsten Leistungen Dickens ge¬
hört: wir meinen Jona's Fahrt mit dem Mann, den er zu ermorden beschlos¬
sen hat. Die ganze Natur athmet diesen Entschluß: Sturm, ein Gewitter
der schrecklichsten Art, die Welt scheint in Aufruhr und Anarchie zu versinken.
Eine andere Scene. Die kleine Ruth und ihr braver Bruder nehmen bei dem
gemüthlichen Westlock ein Mittag ein. Selige Empfindungen der erwachen¬
den Liebe, die, als sie Abends gemeinsam nach Hause gehn, die ganze Na¬
tur anstecken; die Luft ist still und traulich, die Abendsonne funkelt heiter in
einer Quelle u. f. w. -- Beide Scenen finden zu derselben Stunde und
wenigstens theilweise an demselben Ort statt.

Der Fehler ist klein und wol nur wenig bemerkt worden, wir füh¬
ren es auch nur an, um darauf hinzuweisen, daß bei Dickens die Realität nur
dazu dient, die Stimmung zu illustriren. An sich ist die Methode ganz
richtig, denn in der Kunst soll durchweg die Materie dem Geiste dienen. Aber
die Stimmung selbst darf nicht der letzte Zweck sein; sie ist wiederum nur
die sinnliche Grundlage der wahrhaft geistigen Bewegung, der Handlung,
der Charakterbildung, der sittlichen Empfindung; und darin versieht es Dickens
nicht selten, und darum verwandelt sich der Künstler nur zu oft in einen Vir¬
tuosen, der die Kunststücke um ihrer selbst willen vorführt.

Von Thackeray haben wir nur wenig zu sagen. Die Virginier hielt viel¬
leicht nicht schlechter als die Aevcomes oder Vanitx tair oder ktmäermis,
aber wir wenigstens haben die Erfahrung gemacht, daß jeder neue Roman
uns immer weniger interessirt als der unmittelbar vorhergehende. Thackeray
ist ein Realist im guten und im schlimmen Sinn; er kennt die kleinen Schwä¬
chen und die kleinen Größen des menschlichen Herzens wie wenig andere, und
er besitzt, um sie zu vergegenwärtigen, eine Sicherheit der Hand wie vielleicht
kein anderer. Aber auch hier möchten wir sagen, die sogenannte Menschen¬
kenntniß kann doch immer nur Mittel sein, nicht Zweck. Jeder Menschenkenner
von Profession wird zuletzt ein Hypochonder. Es ist gut die Menschen zu
kennen, um sie zu benutzen, oder ihnen zu gefallen, oder ihnen Gutes zu thun,
wer aber diese Kenntniß als todtes Capital verschließt, dem ist sie nur eine
Last. Und dabei rechnet er doch in der Regel falsch; denn das Große
des wirklichen Lebens entzieht sich dieser sogenannten Menschenkenntniß,
d. h. der mikroskopischen Beobachtung. Thackeray hebt nicht etwa blos
die schwarzen Seiten hervor, er findet auch unscheinbare kleine und doch große
Züge glücklich heraus, aber immer nur Einzelnes, denn das Ganze eines


Grenzboten I. 1S60, 60 .

Phantastisches, die Realität ist ihm nicht Zweck, sondern Mittel; sie dient ihm
nur dazu, die Stimmung, die er mit einer Gewalt anregt wie wenige an¬
dere Dichter, sinnlicher auszuprägen. Es fällt uns eine Stelle aus Martin
Chuzzlewit ein, der überhaupt, was Bilder und Stimmungen betrifft, zu den
glänzendsten, was Charaktere betrifft zu den schwächsten Leistungen Dickens ge¬
hört: wir meinen Jona's Fahrt mit dem Mann, den er zu ermorden beschlos¬
sen hat. Die ganze Natur athmet diesen Entschluß: Sturm, ein Gewitter
der schrecklichsten Art, die Welt scheint in Aufruhr und Anarchie zu versinken.
Eine andere Scene. Die kleine Ruth und ihr braver Bruder nehmen bei dem
gemüthlichen Westlock ein Mittag ein. Selige Empfindungen der erwachen¬
den Liebe, die, als sie Abends gemeinsam nach Hause gehn, die ganze Na¬
tur anstecken; die Luft ist still und traulich, die Abendsonne funkelt heiter in
einer Quelle u. f. w. — Beide Scenen finden zu derselben Stunde und
wenigstens theilweise an demselben Ort statt.

Der Fehler ist klein und wol nur wenig bemerkt worden, wir füh¬
ren es auch nur an, um darauf hinzuweisen, daß bei Dickens die Realität nur
dazu dient, die Stimmung zu illustriren. An sich ist die Methode ganz
richtig, denn in der Kunst soll durchweg die Materie dem Geiste dienen. Aber
die Stimmung selbst darf nicht der letzte Zweck sein; sie ist wiederum nur
die sinnliche Grundlage der wahrhaft geistigen Bewegung, der Handlung,
der Charakterbildung, der sittlichen Empfindung; und darin versieht es Dickens
nicht selten, und darum verwandelt sich der Künstler nur zu oft in einen Vir¬
tuosen, der die Kunststücke um ihrer selbst willen vorführt.

Von Thackeray haben wir nur wenig zu sagen. Die Virginier hielt viel¬
leicht nicht schlechter als die Aevcomes oder Vanitx tair oder ktmäermis,
aber wir wenigstens haben die Erfahrung gemacht, daß jeder neue Roman
uns immer weniger interessirt als der unmittelbar vorhergehende. Thackeray
ist ein Realist im guten und im schlimmen Sinn; er kennt die kleinen Schwä¬
chen und die kleinen Größen des menschlichen Herzens wie wenig andere, und
er besitzt, um sie zu vergegenwärtigen, eine Sicherheit der Hand wie vielleicht
kein anderer. Aber auch hier möchten wir sagen, die sogenannte Menschen¬
kenntniß kann doch immer nur Mittel sein, nicht Zweck. Jeder Menschenkenner
von Profession wird zuletzt ein Hypochonder. Es ist gut die Menschen zu
kennen, um sie zu benutzen, oder ihnen zu gefallen, oder ihnen Gutes zu thun,
wer aber diese Kenntniß als todtes Capital verschließt, dem ist sie nur eine
Last. Und dabei rechnet er doch in der Regel falsch; denn das Große
des wirklichen Lebens entzieht sich dieser sogenannten Menschenkenntniß,
d. h. der mikroskopischen Beobachtung. Thackeray hebt nicht etwa blos
die schwarzen Seiten hervor, er findet auch unscheinbare kleine und doch große
Züge glücklich heraus, aber immer nur Einzelnes, denn das Ganze eines


Grenzboten I. 1S60, 60 .
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[0485] Phantastisches, die Realität ist ihm nicht Zweck, sondern Mittel; sie dient ihm nur dazu, die Stimmung, die er mit einer Gewalt anregt wie wenige an¬ dere Dichter, sinnlicher auszuprägen. Es fällt uns eine Stelle aus Martin Chuzzlewit ein, der überhaupt, was Bilder und Stimmungen betrifft, zu den glänzendsten, was Charaktere betrifft zu den schwächsten Leistungen Dickens ge¬ hört: wir meinen Jona's Fahrt mit dem Mann, den er zu ermorden beschlos¬ sen hat. Die ganze Natur athmet diesen Entschluß: Sturm, ein Gewitter der schrecklichsten Art, die Welt scheint in Aufruhr und Anarchie zu versinken. Eine andere Scene. Die kleine Ruth und ihr braver Bruder nehmen bei dem gemüthlichen Westlock ein Mittag ein. Selige Empfindungen der erwachen¬ den Liebe, die, als sie Abends gemeinsam nach Hause gehn, die ganze Na¬ tur anstecken; die Luft ist still und traulich, die Abendsonne funkelt heiter in einer Quelle u. f. w. — Beide Scenen finden zu derselben Stunde und wenigstens theilweise an demselben Ort statt. Der Fehler ist klein und wol nur wenig bemerkt worden, wir füh¬ ren es auch nur an, um darauf hinzuweisen, daß bei Dickens die Realität nur dazu dient, die Stimmung zu illustriren. An sich ist die Methode ganz richtig, denn in der Kunst soll durchweg die Materie dem Geiste dienen. Aber die Stimmung selbst darf nicht der letzte Zweck sein; sie ist wiederum nur die sinnliche Grundlage der wahrhaft geistigen Bewegung, der Handlung, der Charakterbildung, der sittlichen Empfindung; und darin versieht es Dickens nicht selten, und darum verwandelt sich der Künstler nur zu oft in einen Vir¬ tuosen, der die Kunststücke um ihrer selbst willen vorführt. Von Thackeray haben wir nur wenig zu sagen. Die Virginier hielt viel¬ leicht nicht schlechter als die Aevcomes oder Vanitx tair oder ktmäermis, aber wir wenigstens haben die Erfahrung gemacht, daß jeder neue Roman uns immer weniger interessirt als der unmittelbar vorhergehende. Thackeray ist ein Realist im guten und im schlimmen Sinn; er kennt die kleinen Schwä¬ chen und die kleinen Größen des menschlichen Herzens wie wenig andere, und er besitzt, um sie zu vergegenwärtigen, eine Sicherheit der Hand wie vielleicht kein anderer. Aber auch hier möchten wir sagen, die sogenannte Menschen¬ kenntniß kann doch immer nur Mittel sein, nicht Zweck. Jeder Menschenkenner von Profession wird zuletzt ein Hypochonder. Es ist gut die Menschen zu kennen, um sie zu benutzen, oder ihnen zu gefallen, oder ihnen Gutes zu thun, wer aber diese Kenntniß als todtes Capital verschließt, dem ist sie nur eine Last. Und dabei rechnet er doch in der Regel falsch; denn das Große des wirklichen Lebens entzieht sich dieser sogenannten Menschenkenntniß, d. h. der mikroskopischen Beobachtung. Thackeray hebt nicht etwa blos die schwarzen Seiten hervor, er findet auch unscheinbare kleine und doch große Züge glücklich heraus, aber immer nur Einzelnes, denn das Ganze eines Grenzboten I. 1S60, 60 .

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/485>, abgerufen am 14.05.2024.