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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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zurück, durch die Seele zieht es wie eine leise Melodie in Moll, das Helden¬
gedicht des Sonnenlebens wird unter der Magie des Mondes zur Elegie. Ein
seltsames Verschwimmen, Verschieben und Verweben geht vor sich. Indem er
seinen silbernen Zauberstab über den Strom streckt, tauchen vom Grunde die
weißen Nebelgestalten der Wasserfrauen auf, um ihre Reigen über den Stru¬
deln zu tanzen, lautlose Tänze, zu denen nur die Welle am Ufer und vielleicht
ein verirrtes Lüftchen in den Wipfeln die Musik macht. Droben am Himmel
ziehen auf das Geheiß des Königs der Nacht stille Wolkengcschwader hierhin
und dorthin. In der Ferne am Meeresgestade hebt er wie ein netzzichender
Fischer die Flut, drängt er sie über die grauen Watten auf den Stand der
Ebbe zurück. Eine Leuchte der Liebenden, weckt er in ihnen sehnsüchtige Ge¬
fühle, vermittelt er den Wechsel der Grüße zwischen ihnen. Ein Magnet für
den Nachtwandler, führt er ihn in grausiger Höhe auf Pfaden hin, die nur
er selbst und die von ihm Bezauberten ohne Schwindel und tödtlichen Sturz
beschreiten können. Ein Wecker der Todten, läßt er sie schnellen Rittes dem
Gegenstand ihres Verlangens zueilen. '

Wir sind an der Grenze des Aberglaubens angelangt, ja das Bisherige
stand zum Theil schon mit einem, zum Theil bereits auch mit dem andern
Fuß auf dem Gebiet des Aberglaubens. Es wurde der Nest von Aberglauben
geschildert, der dem Gebildeten bleibt. Da derselbe kein bleibender Wahn,
sondern nur eine zeitweilige Stimmung, eine Gefangenschaft des Verstandes
unter der von Natureinflüssen übermächtig gewordenen Phantasie ist, die mit
dem Monde, ja schon mit der Rückkehr des Träumers unter Menschen ver¬
schwindet, so hätte statt der Bezeichnung Aberglauben eine andere gewählt
werden sollen. Indeß ist jene Stimmung mit ihren Hallucinationen nahe
verwandt mit dem wirklichen Aberglauben, gleichsam der noch flüssige, noch
nicht auf bestimmte Gegenstände gerichtete, noch nicht zu Dogmen und Regeln
ausgeprägte Aberglaube, und so mag der obige Ausdruck stehen bleiben.
Genau zu bestimmen, wo hier die Grenze gezogen werden muß und bis wie
weit ein wirklicher Einfluß des Mondes auf die äußere und innere Welt statt¬
findet, ist unmöglich. Einiges, was zur Regulirung dieser Grenze dienen kann,
soll zum Schlüsse beigebracht werden, nachdem wir einen Blick aus den Glauben
des Volkes gethan haben, zu dem wir uns jetzt wenden.

Der Glaube des Volkes vom Monde ist das Resultat jenes temporären Ueber-
wiegens der Phantasie über den Verstand, mit hinübergenommen in das Tages-
leben, vermischt mit einigen richtigen, nur falsch angewendeten Beobachtungen und
dem einen oder andern Nachklang altheidnischer Vorstellungen, angewendet auf
Nahrung und Nothdurft der Alltagsexistenz, ausgeprägt in der grobe" Münze
von Bauernregeln, Zaubcrsprüchen und Sympathiekuren. Der Aberglaube des
Gebildeten vom Monde ist sentimental. Er sieht den guten Mond stille durch


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zurück, durch die Seele zieht es wie eine leise Melodie in Moll, das Helden¬
gedicht des Sonnenlebens wird unter der Magie des Mondes zur Elegie. Ein
seltsames Verschwimmen, Verschieben und Verweben geht vor sich. Indem er
seinen silbernen Zauberstab über den Strom streckt, tauchen vom Grunde die
weißen Nebelgestalten der Wasserfrauen auf, um ihre Reigen über den Stru¬
deln zu tanzen, lautlose Tänze, zu denen nur die Welle am Ufer und vielleicht
ein verirrtes Lüftchen in den Wipfeln die Musik macht. Droben am Himmel
ziehen auf das Geheiß des Königs der Nacht stille Wolkengcschwader hierhin
und dorthin. In der Ferne am Meeresgestade hebt er wie ein netzzichender
Fischer die Flut, drängt er sie über die grauen Watten auf den Stand der
Ebbe zurück. Eine Leuchte der Liebenden, weckt er in ihnen sehnsüchtige Ge¬
fühle, vermittelt er den Wechsel der Grüße zwischen ihnen. Ein Magnet für
den Nachtwandler, führt er ihn in grausiger Höhe auf Pfaden hin, die nur
er selbst und die von ihm Bezauberten ohne Schwindel und tödtlichen Sturz
beschreiten können. Ein Wecker der Todten, läßt er sie schnellen Rittes dem
Gegenstand ihres Verlangens zueilen. '

Wir sind an der Grenze des Aberglaubens angelangt, ja das Bisherige
stand zum Theil schon mit einem, zum Theil bereits auch mit dem andern
Fuß auf dem Gebiet des Aberglaubens. Es wurde der Nest von Aberglauben
geschildert, der dem Gebildeten bleibt. Da derselbe kein bleibender Wahn,
sondern nur eine zeitweilige Stimmung, eine Gefangenschaft des Verstandes
unter der von Natureinflüssen übermächtig gewordenen Phantasie ist, die mit
dem Monde, ja schon mit der Rückkehr des Träumers unter Menschen ver¬
schwindet, so hätte statt der Bezeichnung Aberglauben eine andere gewählt
werden sollen. Indeß ist jene Stimmung mit ihren Hallucinationen nahe
verwandt mit dem wirklichen Aberglauben, gleichsam der noch flüssige, noch
nicht auf bestimmte Gegenstände gerichtete, noch nicht zu Dogmen und Regeln
ausgeprägte Aberglaube, und so mag der obige Ausdruck stehen bleiben.
Genau zu bestimmen, wo hier die Grenze gezogen werden muß und bis wie
weit ein wirklicher Einfluß des Mondes auf die äußere und innere Welt statt¬
findet, ist unmöglich. Einiges, was zur Regulirung dieser Grenze dienen kann,
soll zum Schlüsse beigebracht werden, nachdem wir einen Blick aus den Glauben
des Volkes gethan haben, zu dem wir uns jetzt wenden.

Der Glaube des Volkes vom Monde ist das Resultat jenes temporären Ueber-
wiegens der Phantasie über den Verstand, mit hinübergenommen in das Tages-
leben, vermischt mit einigen richtigen, nur falsch angewendeten Beobachtungen und
dem einen oder andern Nachklang altheidnischer Vorstellungen, angewendet auf
Nahrung und Nothdurft der Alltagsexistenz, ausgeprägt in der grobe» Münze
von Bauernregeln, Zaubcrsprüchen und Sympathiekuren. Der Aberglaube des
Gebildeten vom Monde ist sentimental. Er sieht den guten Mond stille durch


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[0503] zurück, durch die Seele zieht es wie eine leise Melodie in Moll, das Helden¬ gedicht des Sonnenlebens wird unter der Magie des Mondes zur Elegie. Ein seltsames Verschwimmen, Verschieben und Verweben geht vor sich. Indem er seinen silbernen Zauberstab über den Strom streckt, tauchen vom Grunde die weißen Nebelgestalten der Wasserfrauen auf, um ihre Reigen über den Stru¬ deln zu tanzen, lautlose Tänze, zu denen nur die Welle am Ufer und vielleicht ein verirrtes Lüftchen in den Wipfeln die Musik macht. Droben am Himmel ziehen auf das Geheiß des Königs der Nacht stille Wolkengcschwader hierhin und dorthin. In der Ferne am Meeresgestade hebt er wie ein netzzichender Fischer die Flut, drängt er sie über die grauen Watten auf den Stand der Ebbe zurück. Eine Leuchte der Liebenden, weckt er in ihnen sehnsüchtige Ge¬ fühle, vermittelt er den Wechsel der Grüße zwischen ihnen. Ein Magnet für den Nachtwandler, führt er ihn in grausiger Höhe auf Pfaden hin, die nur er selbst und die von ihm Bezauberten ohne Schwindel und tödtlichen Sturz beschreiten können. Ein Wecker der Todten, läßt er sie schnellen Rittes dem Gegenstand ihres Verlangens zueilen. ' Wir sind an der Grenze des Aberglaubens angelangt, ja das Bisherige stand zum Theil schon mit einem, zum Theil bereits auch mit dem andern Fuß auf dem Gebiet des Aberglaubens. Es wurde der Nest von Aberglauben geschildert, der dem Gebildeten bleibt. Da derselbe kein bleibender Wahn, sondern nur eine zeitweilige Stimmung, eine Gefangenschaft des Verstandes unter der von Natureinflüssen übermächtig gewordenen Phantasie ist, die mit dem Monde, ja schon mit der Rückkehr des Träumers unter Menschen ver¬ schwindet, so hätte statt der Bezeichnung Aberglauben eine andere gewählt werden sollen. Indeß ist jene Stimmung mit ihren Hallucinationen nahe verwandt mit dem wirklichen Aberglauben, gleichsam der noch flüssige, noch nicht auf bestimmte Gegenstände gerichtete, noch nicht zu Dogmen und Regeln ausgeprägte Aberglaube, und so mag der obige Ausdruck stehen bleiben. Genau zu bestimmen, wo hier die Grenze gezogen werden muß und bis wie weit ein wirklicher Einfluß des Mondes auf die äußere und innere Welt statt¬ findet, ist unmöglich. Einiges, was zur Regulirung dieser Grenze dienen kann, soll zum Schlüsse beigebracht werden, nachdem wir einen Blick aus den Glauben des Volkes gethan haben, zu dem wir uns jetzt wenden. Der Glaube des Volkes vom Monde ist das Resultat jenes temporären Ueber- wiegens der Phantasie über den Verstand, mit hinübergenommen in das Tages- leben, vermischt mit einigen richtigen, nur falsch angewendeten Beobachtungen und dem einen oder andern Nachklang altheidnischer Vorstellungen, angewendet auf Nahrung und Nothdurft der Alltagsexistenz, ausgeprägt in der grobe» Münze von Bauernregeln, Zaubcrsprüchen und Sympathiekuren. Der Aberglaube des Gebildeten vom Monde ist sentimental. Er sieht den guten Mond stille durch 62*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/503>, abgerufen am 28.05.2024.