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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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einiger Belegstellen ist es nur in den wenigsten Fällen gethan. Bei allen
ernsteren Sachen ist das Urtheil des Historikers das Resume' einer Begleichung
von tausend verschiedenen Stellen, die er doch unmöglich zusammen mit sei¬
nen Ueberlegungen und Schlüssen dem Leser wieder vorzählen kann.

Theils dieser Umstand, theils die künstlerische Rücksicht hat unsere neuesten
Geschichtschreiber seit Ranke bewogen, von der Begründung ihrer Darstellung
ganz zu abstrahiren und es dem Leser zu überlassen, wenn er ihnen nicht glaubt,
denselben Weg der Forschung durchzumachen, den sie durchgemacht haben. Daß
man damit einen argen Mißbrauch treiben kann, liegt auf der Hand; anderer¬
seits ist es sehr schwer die Grenze festzustellen, bis zu welcher die Persönlich¬
keit des Verfassers als vollwichtige Bürgschaft für seine Behauptungen eintreten
kann. Einen, Meister wie Sybel gegenüber darf man in dieser Beziehung
keinen Tadel, sondern nur Fragen und Bedenken aufstellen. Und so möge
auch das verstanden werden, was wir zu sagen haben.

Sybel begnügt sich nicht damit, sein Urtheil zwischen den Zeilen aus den
mitgetheilten Thatsache" lesen zu lassen, sondern er gibt ihm stets einen be¬
stimmte" Ausdruck, zuweilen in recht harten und schneidenden Formen. In
den meisten Fällen, so weit wir ihn zu controlliren im Stande sind, pflichten
wir diesem Unheil bei, aber doch nicht immer, und ein Beispiel müssen wir
anführen, weil sich eine allgemeinere Frage daran knüpft. Wir meinen das
Urtheil über Mirabeau und Lnfayette, worin freilich sehr bedeutende Geschicht¬
schreiber z. B. Dahlmann mit ihm übereinstimmen.

Zunächst müssen wir bemerken, daß Sybel für diese Sachen keine andere
Quellen hat benutzen können, als die auch uns vollständig bekannt sind.
Und wie man aus diesen Quellen z. B. aus der Korrespondenz Mirabeaus
mit dem Herzog v. Aremberg das heraus lesen kann, was Sybel darin ge¬
funden hat, ist uns gradezu unverständlich. Fast möchten wir glauben, der all¬
gemeine Eindruck der beiderseitige" Persönlichkeiten habe doch etwas ma߬
gebend ans das Urtheil über ihre Handlungsweise eingewirkt. Und da ist
freilich keine Wahl. Mirabeau ist eine höchst interessante und bedeutende
Persönlichkeit, voll Geist und Leben in jedem Zuge, selbst in seinen Schwächen
verführerisch und von jener dämonischen Anziehungskraft, der man im Lebe"
wie im Gedicht nur selten widersteht, und Lafayette hatte auch in seiner besten
Zeit etwas langweilig biedermännisches, das kaum eine warme menschliche
Theilnahme aufkommen läßt; aber dieser Eindruck der Persönlichkeiten hat
auch so stark auf Sybel gewirkt, daß er es mit ihnen grade so macht wie
Mommsen mit Cäsar und Pompejus'. die Erwähnung des einen erfolgt stets
mit einem begeisterten Prädikat, die des andern mit einem verächtlich weg¬
werfenden. Aber die Sache verdient doch noch einen wesentlich andern Ge¬
sichtspunkt.


einiger Belegstellen ist es nur in den wenigsten Fällen gethan. Bei allen
ernsteren Sachen ist das Urtheil des Historikers das Resume' einer Begleichung
von tausend verschiedenen Stellen, die er doch unmöglich zusammen mit sei¬
nen Ueberlegungen und Schlüssen dem Leser wieder vorzählen kann.

Theils dieser Umstand, theils die künstlerische Rücksicht hat unsere neuesten
Geschichtschreiber seit Ranke bewogen, von der Begründung ihrer Darstellung
ganz zu abstrahiren und es dem Leser zu überlassen, wenn er ihnen nicht glaubt,
denselben Weg der Forschung durchzumachen, den sie durchgemacht haben. Daß
man damit einen argen Mißbrauch treiben kann, liegt auf der Hand; anderer¬
seits ist es sehr schwer die Grenze festzustellen, bis zu welcher die Persönlich¬
keit des Verfassers als vollwichtige Bürgschaft für seine Behauptungen eintreten
kann. Einen, Meister wie Sybel gegenüber darf man in dieser Beziehung
keinen Tadel, sondern nur Fragen und Bedenken aufstellen. Und so möge
auch das verstanden werden, was wir zu sagen haben.

Sybel begnügt sich nicht damit, sein Urtheil zwischen den Zeilen aus den
mitgetheilten Thatsache» lesen zu lassen, sondern er gibt ihm stets einen be¬
stimmte» Ausdruck, zuweilen in recht harten und schneidenden Formen. In
den meisten Fällen, so weit wir ihn zu controlliren im Stande sind, pflichten
wir diesem Unheil bei, aber doch nicht immer, und ein Beispiel müssen wir
anführen, weil sich eine allgemeinere Frage daran knüpft. Wir meinen das
Urtheil über Mirabeau und Lnfayette, worin freilich sehr bedeutende Geschicht¬
schreiber z. B. Dahlmann mit ihm übereinstimmen.

Zunächst müssen wir bemerken, daß Sybel für diese Sachen keine andere
Quellen hat benutzen können, als die auch uns vollständig bekannt sind.
Und wie man aus diesen Quellen z. B. aus der Korrespondenz Mirabeaus
mit dem Herzog v. Aremberg das heraus lesen kann, was Sybel darin ge¬
funden hat, ist uns gradezu unverständlich. Fast möchten wir glauben, der all¬
gemeine Eindruck der beiderseitige» Persönlichkeiten habe doch etwas ma߬
gebend ans das Urtheil über ihre Handlungsweise eingewirkt. Und da ist
freilich keine Wahl. Mirabeau ist eine höchst interessante und bedeutende
Persönlichkeit, voll Geist und Leben in jedem Zuge, selbst in seinen Schwächen
verführerisch und von jener dämonischen Anziehungskraft, der man im Lebe»
wie im Gedicht nur selten widersteht, und Lafayette hatte auch in seiner besten
Zeit etwas langweilig biedermännisches, das kaum eine warme menschliche
Theilnahme aufkommen läßt; aber dieser Eindruck der Persönlichkeiten hat
auch so stark auf Sybel gewirkt, daß er es mit ihnen grade so macht wie
Mommsen mit Cäsar und Pompejus'. die Erwähnung des einen erfolgt stets
mit einem begeisterten Prädikat, die des andern mit einem verächtlich weg¬
werfenden. Aber die Sache verdient doch noch einen wesentlich andern Ge¬
sichtspunkt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/521>, abgerufen am 09.06.2024.