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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Washington Irving war 1783 geboren; bereits 1804 besuchte er auf
längere Zeit Europa. Als Schriftsteller begann er mit Satiren: "Knickerbockers
Geschichte von New-Uork vom Anfang der Welt bis zum Ausgang der hol¬
ländischen Dynastie" 1809 hat ihm in seinem Vaterlande einen guten Namen
gemacht; in Europa wurde er zuerst durch sein Skizzenbuch 1820 bekannt:
gemüthliche Bilder der sittlichen Zustände Englands mit kleinen Novelletten,
Sagen u. tgi. durchwebt, denen später noch mehrere Ergänzungen folgten.
Die Virtuosität des gemüthlichen Humors hat seit der Zeit unglaubliche Fort¬
schritte gemacht; doch sind diese Skizzen gerade ihrer plastischen Einfachheit
wegen noch immer ein Lieblingsbuch Englands und Deutschlands. -- Seine
historischen Schriften Columbus, Mcchomed und seine Nachfolger und Washing¬
ton sind mehr durch strenge Einfachheit der Darstellung, durch eine voll¬
kommen sachgemäße Haltung, als durch poetischen Schmuck ausgezeichnet.

Der dritte Historiker ist Prescott, vier Jahr älter als Macaulay. Seine
Geschichte Ferdinands und Jsabellas 1838, der Eroberung von Mexiko 1343,
von Peru 1847 und Philipps II. die erst vor wenigen Jahren vollendet wurde,
gehören, was Quellenforschung und gründliche Bearbeitung des Stoffs betrifft,
zu den Meisterwerken der historischen Literatur. In Bezug aus den Stil sind
sie mit den Werken der beiden andern nicht zu vergleichen: er ist ost bis zur
Trockenheit einförmig, und um diese Einförmigkeit zu unterbrechen, nimmt der
Geschichtschreiber wol auch mitunter zu äußerlichen Mitteln seine Zuflucht.

Deutschland hat drei schwere Verluste zu beklagen. Alexander v. Hum¬
boldt, Carl Ritter und Wilhelm Grimm; der eine 90, der andere 80, der
dritte 73 Jahre alt; alle drei schöpferische Geister in Bezug auf ihre Wissen¬
schaft und Gründer einer Schule, die sich über ganz Europa ausdehnt. Hum¬
boldt, der älteste unter ihnen, warder letzte große Zögling unserer classischen
Periode. Sein Streben war ganz im griechischen Sinn, die Wissenschaft als
Totalität zu behandeln, zunächst die Naturwissenschaft in dem ungeheuern Um-
fang, den ganz zu umfassen heute kaum noch ein Menschenleben ausreicht;
aber auch sie nur als Bildungsmoment zur Humanität. Er setzte durch, was
Goethe nur anstrebte ohne es zu erreichen, weil man diese völlige Durch-
geistigung der Natur nicht blos in den Nebenstunden betreiben darf. Er
führte in klaren, wissenschaftlich fest begründeten Umrissen aus, was der Natur¬
philosophie dunkel und verworren vorschwebte. So viel ihm die Wissenschaft
an Detailforschungen verdankt, die Hauptsache seines Wirkens bleibt immer,
daß er das Detail zur Totalität zusammenzufassen, daß er aus der Analyse,
Zerlegung, Abstraction u. s. w. sich wieder zur concreten lebendigen An¬
schauung durchzuarbeiten wußte. Durch seine Reisen von unerhörter Ausdeh¬
nung, durch seinen universellen Verkehr mit allen Größen der gelehrten Welt,
selbst durch sein schriftstellerisches Wirken, da er französisch fast besser und


Washington Irving war 1783 geboren; bereits 1804 besuchte er auf
längere Zeit Europa. Als Schriftsteller begann er mit Satiren: „Knickerbockers
Geschichte von New-Uork vom Anfang der Welt bis zum Ausgang der hol¬
ländischen Dynastie" 1809 hat ihm in seinem Vaterlande einen guten Namen
gemacht; in Europa wurde er zuerst durch sein Skizzenbuch 1820 bekannt:
gemüthliche Bilder der sittlichen Zustände Englands mit kleinen Novelletten,
Sagen u. tgi. durchwebt, denen später noch mehrere Ergänzungen folgten.
Die Virtuosität des gemüthlichen Humors hat seit der Zeit unglaubliche Fort¬
schritte gemacht; doch sind diese Skizzen gerade ihrer plastischen Einfachheit
wegen noch immer ein Lieblingsbuch Englands und Deutschlands. — Seine
historischen Schriften Columbus, Mcchomed und seine Nachfolger und Washing¬
ton sind mehr durch strenge Einfachheit der Darstellung, durch eine voll¬
kommen sachgemäße Haltung, als durch poetischen Schmuck ausgezeichnet.

Der dritte Historiker ist Prescott, vier Jahr älter als Macaulay. Seine
Geschichte Ferdinands und Jsabellas 1838, der Eroberung von Mexiko 1343,
von Peru 1847 und Philipps II. die erst vor wenigen Jahren vollendet wurde,
gehören, was Quellenforschung und gründliche Bearbeitung des Stoffs betrifft,
zu den Meisterwerken der historischen Literatur. In Bezug aus den Stil sind
sie mit den Werken der beiden andern nicht zu vergleichen: er ist ost bis zur
Trockenheit einförmig, und um diese Einförmigkeit zu unterbrechen, nimmt der
Geschichtschreiber wol auch mitunter zu äußerlichen Mitteln seine Zuflucht.

Deutschland hat drei schwere Verluste zu beklagen. Alexander v. Hum¬
boldt, Carl Ritter und Wilhelm Grimm; der eine 90, der andere 80, der
dritte 73 Jahre alt; alle drei schöpferische Geister in Bezug auf ihre Wissen¬
schaft und Gründer einer Schule, die sich über ganz Europa ausdehnt. Hum¬
boldt, der älteste unter ihnen, warder letzte große Zögling unserer classischen
Periode. Sein Streben war ganz im griechischen Sinn, die Wissenschaft als
Totalität zu behandeln, zunächst die Naturwissenschaft in dem ungeheuern Um-
fang, den ganz zu umfassen heute kaum noch ein Menschenleben ausreicht;
aber auch sie nur als Bildungsmoment zur Humanität. Er setzte durch, was
Goethe nur anstrebte ohne es zu erreichen, weil man diese völlige Durch-
geistigung der Natur nicht blos in den Nebenstunden betreiben darf. Er
führte in klaren, wissenschaftlich fest begründeten Umrissen aus, was der Natur¬
philosophie dunkel und verworren vorschwebte. So viel ihm die Wissenschaft
an Detailforschungen verdankt, die Hauptsache seines Wirkens bleibt immer,
daß er das Detail zur Totalität zusammenzufassen, daß er aus der Analyse,
Zerlegung, Abstraction u. s. w. sich wieder zur concreten lebendigen An¬
schauung durchzuarbeiten wußte. Durch seine Reisen von unerhörter Ausdeh¬
nung, durch seinen universellen Verkehr mit allen Größen der gelehrten Welt,
selbst durch sein schriftstellerisches Wirken, da er französisch fast besser und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/82>, abgerufen am 14.05.2024.