Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lieber schrieb als deutsch, war er Kosmopolit; sein gemüthliches Leben aber
wurzelt ganz auf deutschem Boden, er gehört seiner Bildung nach unserer
wichtigsten Culturepoche an und er ist mit seinen Tugenden wie mit seinen
Schwächen -- wenn man dieses letzte Wort auf Alexander v. Humboldt an¬
wenden darf,,-- ein Deutscher im vollsten Sinne des Worts.

Ritter gehört einer etwas späteren Periode an. Schon hatte die Natur¬
philosophie das empirische Material durchgeistigt, und, was ihr wohl am
allgemeinsten angerechnet werden muß. auf den innern Zusammenhang zwi¬
schen den Sprach- und Naturwissenschaften, sowie auf ihre Beziehung zur Ge
schichte der Kunst und Religion aufmerksam gemacht; schon hatte ihre An¬
maßung eine allgemeine Reaction hervorgerufen; schon war man allgemein
von der Nothwendigkeit überzeugt, an Stelle der Ahnungen, Eingebungen.
Anregungen ein streng umrissenes wissenschaftliches System eintreten zulassen;
schon war Schelling durch Hegel abgelöst, welcher den Synkretismus der ver¬
schiedenen wissenschaftlichen Methoden, der Physik, Linguistik und Theologie,
auf dem Boden eines speculativen Systems durchzuführen versuchte: ein glän¬
zendes und stattliches Gebäude, das freilich, wie sich später ergeben hat, aus
Sand aufgeführt war. Wie sehr Ritter in dem Boden seiner Voraussetzungen
wurzelte, zeigt sein zweites Werk "die Vorhalle europäischer Völkergeschichten"
1820; wie sehr er sich aber durch seine streng wissenschaftliche Natur über
diese Voraussetzung erhob, sieht man bereits aus dem ersten Entwurf seiner
Erdkunde 1817. Auch hier finden wir wieder, wenn auch in einem engern
Kreis, das Streben Humboldts, aus der Analyse und Abstraction zum vollen
concreten Leben zurückzukehren. Ritter ist ein Sammler im größten Stil, aber
sein Sammeln wird durch einen schöpferischen Gedanken getragen: die Geo¬
graphie ist nicht blos aus einer Reihe von Notizen über die Oberfläche der
Erde zusammengesetzt, sie hat ein inneres organisches Leben. Die Erde ist
nicht blos ein Niederschlag vorsündfluthlicher Geschichte, von Revolutionen,
die in ihrem Innern vorgegangen sind: sie ist vielmehr ein Individuum mit
fortgehender Geschichte, zu dem sowohl das ganze physikalische Gesetz, das
Sternen- und Sonnensystem, als auch die Menschheit mit ihrer sprachlichen
und sittlichen Entwickelung gehört. Auch der Mensch, auch die Nationen und
Staaten gehören zum gesetzlichen Leben und zur Entwickelung des Erdballs.
Geistvolle Winke waren darüber bereits von Kant und Herder gegeben, aber
es gehörte eine mächtige Willenskraft dazu, in dieser Weise das ungeheure
Material zu vergeistigen, ja im gewissen Sinn das Material aus der Idee
wieder neu herauszuschöpsen. Was in verhältnißmäßig kurzer Zeit diese
neue Wissenschaft, geschult und disciplinirt wie keine andere, geleistet hat, wird
die Nachwelt in Erstaunen setzen. Vielleicht wird die Zeit bald gekommen
sein, eine Geschichte derselben zu schreiben: diese Geschichte wird aber daran


lieber schrieb als deutsch, war er Kosmopolit; sein gemüthliches Leben aber
wurzelt ganz auf deutschem Boden, er gehört seiner Bildung nach unserer
wichtigsten Culturepoche an und er ist mit seinen Tugenden wie mit seinen
Schwächen — wenn man dieses letzte Wort auf Alexander v. Humboldt an¬
wenden darf,,— ein Deutscher im vollsten Sinne des Worts.

Ritter gehört einer etwas späteren Periode an. Schon hatte die Natur¬
philosophie das empirische Material durchgeistigt, und, was ihr wohl am
allgemeinsten angerechnet werden muß. auf den innern Zusammenhang zwi¬
schen den Sprach- und Naturwissenschaften, sowie auf ihre Beziehung zur Ge
schichte der Kunst und Religion aufmerksam gemacht; schon hatte ihre An¬
maßung eine allgemeine Reaction hervorgerufen; schon war man allgemein
von der Nothwendigkeit überzeugt, an Stelle der Ahnungen, Eingebungen.
Anregungen ein streng umrissenes wissenschaftliches System eintreten zulassen;
schon war Schelling durch Hegel abgelöst, welcher den Synkretismus der ver¬
schiedenen wissenschaftlichen Methoden, der Physik, Linguistik und Theologie,
auf dem Boden eines speculativen Systems durchzuführen versuchte: ein glän¬
zendes und stattliches Gebäude, das freilich, wie sich später ergeben hat, aus
Sand aufgeführt war. Wie sehr Ritter in dem Boden seiner Voraussetzungen
wurzelte, zeigt sein zweites Werk „die Vorhalle europäischer Völkergeschichten"
1820; wie sehr er sich aber durch seine streng wissenschaftliche Natur über
diese Voraussetzung erhob, sieht man bereits aus dem ersten Entwurf seiner
Erdkunde 1817. Auch hier finden wir wieder, wenn auch in einem engern
Kreis, das Streben Humboldts, aus der Analyse und Abstraction zum vollen
concreten Leben zurückzukehren. Ritter ist ein Sammler im größten Stil, aber
sein Sammeln wird durch einen schöpferischen Gedanken getragen: die Geo¬
graphie ist nicht blos aus einer Reihe von Notizen über die Oberfläche der
Erde zusammengesetzt, sie hat ein inneres organisches Leben. Die Erde ist
nicht blos ein Niederschlag vorsündfluthlicher Geschichte, von Revolutionen,
die in ihrem Innern vorgegangen sind: sie ist vielmehr ein Individuum mit
fortgehender Geschichte, zu dem sowohl das ganze physikalische Gesetz, das
Sternen- und Sonnensystem, als auch die Menschheit mit ihrer sprachlichen
und sittlichen Entwickelung gehört. Auch der Mensch, auch die Nationen und
Staaten gehören zum gesetzlichen Leben und zur Entwickelung des Erdballs.
Geistvolle Winke waren darüber bereits von Kant und Herder gegeben, aber
es gehörte eine mächtige Willenskraft dazu, in dieser Weise das ungeheure
Material zu vergeistigen, ja im gewissen Sinn das Material aus der Idee
wieder neu herauszuschöpsen. Was in verhältnißmäßig kurzer Zeit diese
neue Wissenschaft, geschult und disciplinirt wie keine andere, geleistet hat, wird
die Nachwelt in Erstaunen setzen. Vielleicht wird die Zeit bald gekommen
sein, eine Geschichte derselben zu schreiben: diese Geschichte wird aber daran


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0083" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108805"/>
          <p xml:id="ID_245" prev="#ID_244"> lieber schrieb als deutsch, war er Kosmopolit; sein gemüthliches Leben aber<lb/>
wurzelt ganz auf deutschem Boden, er gehört seiner Bildung nach unserer<lb/>
wichtigsten Culturepoche an und er ist mit seinen Tugenden wie mit seinen<lb/>
Schwächen &#x2014; wenn man dieses letzte Wort auf Alexander v. Humboldt an¬<lb/>
wenden darf,,&#x2014; ein Deutscher im vollsten Sinne des Worts.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_246" next="#ID_247"> Ritter gehört einer etwas späteren Periode an. Schon hatte die Natur¬<lb/>
philosophie das empirische Material durchgeistigt, und, was ihr wohl am<lb/>
allgemeinsten angerechnet werden muß. auf den innern Zusammenhang zwi¬<lb/>
schen den Sprach- und Naturwissenschaften, sowie auf ihre Beziehung zur Ge<lb/>
schichte der Kunst und Religion aufmerksam gemacht; schon hatte ihre An¬<lb/>
maßung eine allgemeine Reaction hervorgerufen; schon war man allgemein<lb/>
von der Nothwendigkeit überzeugt, an Stelle der Ahnungen, Eingebungen.<lb/>
Anregungen ein streng umrissenes wissenschaftliches System eintreten zulassen;<lb/>
schon war Schelling durch Hegel abgelöst, welcher den Synkretismus der ver¬<lb/>
schiedenen wissenschaftlichen Methoden, der Physik, Linguistik und Theologie,<lb/>
auf dem Boden eines speculativen Systems durchzuführen versuchte: ein glän¬<lb/>
zendes und stattliches Gebäude, das freilich, wie sich später ergeben hat, aus<lb/>
Sand aufgeführt war. Wie sehr Ritter in dem Boden seiner Voraussetzungen<lb/>
wurzelte, zeigt sein zweites Werk &#x201E;die Vorhalle europäischer Völkergeschichten"<lb/>
1820; wie sehr er sich aber durch seine streng wissenschaftliche Natur über<lb/>
diese Voraussetzung erhob, sieht man bereits aus dem ersten Entwurf seiner<lb/>
Erdkunde 1817. Auch hier finden wir wieder, wenn auch in einem engern<lb/>
Kreis, das Streben Humboldts, aus der Analyse und Abstraction zum vollen<lb/>
concreten Leben zurückzukehren. Ritter ist ein Sammler im größten Stil, aber<lb/>
sein Sammeln wird durch einen schöpferischen Gedanken getragen: die Geo¬<lb/>
graphie ist nicht blos aus einer Reihe von Notizen über die Oberfläche der<lb/>
Erde zusammengesetzt, sie hat ein inneres organisches Leben. Die Erde ist<lb/>
nicht blos ein Niederschlag vorsündfluthlicher Geschichte, von Revolutionen,<lb/>
die in ihrem Innern vorgegangen sind: sie ist vielmehr ein Individuum mit<lb/>
fortgehender Geschichte, zu dem sowohl das ganze physikalische Gesetz, das<lb/>
Sternen- und Sonnensystem, als auch die Menschheit mit ihrer sprachlichen<lb/>
und sittlichen Entwickelung gehört. Auch der Mensch, auch die Nationen und<lb/>
Staaten gehören zum gesetzlichen Leben und zur Entwickelung des Erdballs.<lb/>
Geistvolle Winke waren darüber bereits von Kant und Herder gegeben, aber<lb/>
es gehörte eine mächtige Willenskraft dazu, in dieser Weise das ungeheure<lb/>
Material zu vergeistigen, ja im gewissen Sinn das Material aus der Idee<lb/>
wieder neu herauszuschöpsen. Was in verhältnißmäßig kurzer Zeit diese<lb/>
neue Wissenschaft, geschult und disciplinirt wie keine andere, geleistet hat, wird<lb/>
die Nachwelt in Erstaunen setzen. Vielleicht wird die Zeit bald gekommen<lb/>
sein, eine Geschichte derselben zu schreiben: diese Geschichte wird aber daran</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0083] lieber schrieb als deutsch, war er Kosmopolit; sein gemüthliches Leben aber wurzelt ganz auf deutschem Boden, er gehört seiner Bildung nach unserer wichtigsten Culturepoche an und er ist mit seinen Tugenden wie mit seinen Schwächen — wenn man dieses letzte Wort auf Alexander v. Humboldt an¬ wenden darf,,— ein Deutscher im vollsten Sinne des Worts. Ritter gehört einer etwas späteren Periode an. Schon hatte die Natur¬ philosophie das empirische Material durchgeistigt, und, was ihr wohl am allgemeinsten angerechnet werden muß. auf den innern Zusammenhang zwi¬ schen den Sprach- und Naturwissenschaften, sowie auf ihre Beziehung zur Ge schichte der Kunst und Religion aufmerksam gemacht; schon hatte ihre An¬ maßung eine allgemeine Reaction hervorgerufen; schon war man allgemein von der Nothwendigkeit überzeugt, an Stelle der Ahnungen, Eingebungen. Anregungen ein streng umrissenes wissenschaftliches System eintreten zulassen; schon war Schelling durch Hegel abgelöst, welcher den Synkretismus der ver¬ schiedenen wissenschaftlichen Methoden, der Physik, Linguistik und Theologie, auf dem Boden eines speculativen Systems durchzuführen versuchte: ein glän¬ zendes und stattliches Gebäude, das freilich, wie sich später ergeben hat, aus Sand aufgeführt war. Wie sehr Ritter in dem Boden seiner Voraussetzungen wurzelte, zeigt sein zweites Werk „die Vorhalle europäischer Völkergeschichten" 1820; wie sehr er sich aber durch seine streng wissenschaftliche Natur über diese Voraussetzung erhob, sieht man bereits aus dem ersten Entwurf seiner Erdkunde 1817. Auch hier finden wir wieder, wenn auch in einem engern Kreis, das Streben Humboldts, aus der Analyse und Abstraction zum vollen concreten Leben zurückzukehren. Ritter ist ein Sammler im größten Stil, aber sein Sammeln wird durch einen schöpferischen Gedanken getragen: die Geo¬ graphie ist nicht blos aus einer Reihe von Notizen über die Oberfläche der Erde zusammengesetzt, sie hat ein inneres organisches Leben. Die Erde ist nicht blos ein Niederschlag vorsündfluthlicher Geschichte, von Revolutionen, die in ihrem Innern vorgegangen sind: sie ist vielmehr ein Individuum mit fortgehender Geschichte, zu dem sowohl das ganze physikalische Gesetz, das Sternen- und Sonnensystem, als auch die Menschheit mit ihrer sprachlichen und sittlichen Entwickelung gehört. Auch der Mensch, auch die Nationen und Staaten gehören zum gesetzlichen Leben und zur Entwickelung des Erdballs. Geistvolle Winke waren darüber bereits von Kant und Herder gegeben, aber es gehörte eine mächtige Willenskraft dazu, in dieser Weise das ungeheure Material zu vergeistigen, ja im gewissen Sinn das Material aus der Idee wieder neu herauszuschöpsen. Was in verhältnißmäßig kurzer Zeit diese neue Wissenschaft, geschult und disciplinirt wie keine andere, geleistet hat, wird die Nachwelt in Erstaunen setzen. Vielleicht wird die Zeit bald gekommen sein, eine Geschichte derselben zu schreiben: diese Geschichte wird aber daran

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/83
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/83>, abgerufen am 29.05.2024.