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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Der schweizer Vmrdcsrath hat seitdem eine Darstellung der staatsrechtlichen
Verhältnisse und der Verträge, welche ihnen zu Grunde liegen, in einer Denk¬
schrift der europäischen Diplomatie unterbreitet, wie sich annehmen läßt, mit
bestimmter Rücksicht auf den bevorstehenden pariser Kongreß und die neue
Regulirung der italienische" Frage. Wir sind in der Lage, aus diesem diplo¬
matischen Actenstück, dessen gewissenhafte und lichtvolle Abfassung besonderes Lob
verdient, die Hauptsache mitzutheilen.

Zunächst muß der wenig gewürdigte Umstand hevorgehoben werden, daß
der neutralisirte Theil des Herzogthums Savoyen keineswegs eine klcrne Parcelle
ist; er umfaßt die sardinischen Provinzen Chablais, Faucigny und Genevois,
außerdem Ugine und Theile von Faverges und dem eigentlichen Savoyen, zu¬
sammen 337,000 Seelen auf 270 Quadratstunden, die Hälfte des gesammten
Savoyens. Das neutralisirte Territorium, ein hohes Gebirgsland, grenzt auf
einer Strecke von 34 schweizer Stunden an die Schweiz, im Norden an
Genf und dem Genfer See, im Osten an Wallis, im Südosten an die Ge¬
birgskette des Montblanc, welche hier acht Wegstunden lang einen unüber-
steiglichen Wall bildet. -- Im Osten scheidet die Rhone dasselbe auf 10 Stunden
Länge von Frankreich.

Die Flüsse und Thäler dieses Territoriums öffnen sich zum Theil auf die
Schweiz; und zwar das Wassergebiet der Dranse und Arve, 145 Quadrat¬
stunden mit 160,000 Seelen. -- Der Absatz aller Producte dieses Gebietes,
d. h. des ganzen Chablais. Faucigny und eines Theils von Genevois geht
nach dem großen Wasserbecken des Genfer Sees, nach Genf und den Städten
und Ncbgeländen der Waadt; und die Bevölkerung dieses schweizer Gebietes
ist für ihre Nahrungsbedürfnisse wesentlich auf jene savoyer Provinzen an¬
gewiesen, welche ihrerseits von Wallis und dem savoyer Hinterland durch hohe
Gebirgsketten getrennt sind. So ist Genf der große Markt für diesen Theil
des neutralisirten Savoyens. In Genf machen seine Bewohner ihre Einkäufe,
dort suchen sie den Bankier oder ausleihenden Kapitalisten; an 10.000 Sa-
voyarden finden dort Arbeit und Verdienst; die Industrie Genfs beschäftigt die
Gebirgsbewohner bis in die höchsten Alpenthäler hinauf. So ist der größere
Theil dieses Territoriums allerdings auch volkswirthschaftlich eine Appcrtinenz
des genfer Gebietes. Dagegen öffnen sich die Gebiete der Gcbirgsbüche Ousses
und Fier nach Westen, auf Annecy und Chcunb6ry, und die Beziehungen,
welche dieser neutralisirte Theil zur Schweiz hat. sind schwächer.

Die Lage der Schweiz inmitten mächtiger Militärstaaten gibt derselben bei
allen Kämpfen, welche zwischen diesen ausbrechen, eine große strategische Bedeu¬
tung. Sie beherrscht in der Ccntralalpenkette auf eine Länge von 80 Stunden
die Pässe nach Italien und außerdem die Quellenrcgionen der drei wichtigen
Stromgebiete des Rheines, des Inns, beziehungsweise der Donau, und der Rhone.


Der schweizer Vmrdcsrath hat seitdem eine Darstellung der staatsrechtlichen
Verhältnisse und der Verträge, welche ihnen zu Grunde liegen, in einer Denk¬
schrift der europäischen Diplomatie unterbreitet, wie sich annehmen läßt, mit
bestimmter Rücksicht auf den bevorstehenden pariser Kongreß und die neue
Regulirung der italienische» Frage. Wir sind in der Lage, aus diesem diplo¬
matischen Actenstück, dessen gewissenhafte und lichtvolle Abfassung besonderes Lob
verdient, die Hauptsache mitzutheilen.

Zunächst muß der wenig gewürdigte Umstand hevorgehoben werden, daß
der neutralisirte Theil des Herzogthums Savoyen keineswegs eine klcrne Parcelle
ist; er umfaßt die sardinischen Provinzen Chablais, Faucigny und Genevois,
außerdem Ugine und Theile von Faverges und dem eigentlichen Savoyen, zu¬
sammen 337,000 Seelen auf 270 Quadratstunden, die Hälfte des gesammten
Savoyens. Das neutralisirte Territorium, ein hohes Gebirgsland, grenzt auf
einer Strecke von 34 schweizer Stunden an die Schweiz, im Norden an
Genf und dem Genfer See, im Osten an Wallis, im Südosten an die Ge¬
birgskette des Montblanc, welche hier acht Wegstunden lang einen unüber-
steiglichen Wall bildet. — Im Osten scheidet die Rhone dasselbe auf 10 Stunden
Länge von Frankreich.

Die Flüsse und Thäler dieses Territoriums öffnen sich zum Theil auf die
Schweiz; und zwar das Wassergebiet der Dranse und Arve, 145 Quadrat¬
stunden mit 160,000 Seelen. — Der Absatz aller Producte dieses Gebietes,
d. h. des ganzen Chablais. Faucigny und eines Theils von Genevois geht
nach dem großen Wasserbecken des Genfer Sees, nach Genf und den Städten
und Ncbgeländen der Waadt; und die Bevölkerung dieses schweizer Gebietes
ist für ihre Nahrungsbedürfnisse wesentlich auf jene savoyer Provinzen an¬
gewiesen, welche ihrerseits von Wallis und dem savoyer Hinterland durch hohe
Gebirgsketten getrennt sind. So ist Genf der große Markt für diesen Theil
des neutralisirten Savoyens. In Genf machen seine Bewohner ihre Einkäufe,
dort suchen sie den Bankier oder ausleihenden Kapitalisten; an 10.000 Sa-
voyarden finden dort Arbeit und Verdienst; die Industrie Genfs beschäftigt die
Gebirgsbewohner bis in die höchsten Alpenthäler hinauf. So ist der größere
Theil dieses Territoriums allerdings auch volkswirthschaftlich eine Appcrtinenz
des genfer Gebietes. Dagegen öffnen sich die Gebiete der Gcbirgsbüche Ousses
und Fier nach Westen, auf Annecy und Chcunb6ry, und die Beziehungen,
welche dieser neutralisirte Theil zur Schweiz hat. sind schwächer.

Die Lage der Schweiz inmitten mächtiger Militärstaaten gibt derselben bei
allen Kämpfen, welche zwischen diesen ausbrechen, eine große strategische Bedeu¬
tung. Sie beherrscht in der Ccntralalpenkette auf eine Länge von 80 Stunden
die Pässe nach Italien und außerdem die Quellenrcgionen der drei wichtigen
Stromgebiete des Rheines, des Inns, beziehungsweise der Donau, und der Rhone.


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[0094] Der schweizer Vmrdcsrath hat seitdem eine Darstellung der staatsrechtlichen Verhältnisse und der Verträge, welche ihnen zu Grunde liegen, in einer Denk¬ schrift der europäischen Diplomatie unterbreitet, wie sich annehmen läßt, mit bestimmter Rücksicht auf den bevorstehenden pariser Kongreß und die neue Regulirung der italienische» Frage. Wir sind in der Lage, aus diesem diplo¬ matischen Actenstück, dessen gewissenhafte und lichtvolle Abfassung besonderes Lob verdient, die Hauptsache mitzutheilen. Zunächst muß der wenig gewürdigte Umstand hevorgehoben werden, daß der neutralisirte Theil des Herzogthums Savoyen keineswegs eine klcrne Parcelle ist; er umfaßt die sardinischen Provinzen Chablais, Faucigny und Genevois, außerdem Ugine und Theile von Faverges und dem eigentlichen Savoyen, zu¬ sammen 337,000 Seelen auf 270 Quadratstunden, die Hälfte des gesammten Savoyens. Das neutralisirte Territorium, ein hohes Gebirgsland, grenzt auf einer Strecke von 34 schweizer Stunden an die Schweiz, im Norden an Genf und dem Genfer See, im Osten an Wallis, im Südosten an die Ge¬ birgskette des Montblanc, welche hier acht Wegstunden lang einen unüber- steiglichen Wall bildet. — Im Osten scheidet die Rhone dasselbe auf 10 Stunden Länge von Frankreich. Die Flüsse und Thäler dieses Territoriums öffnen sich zum Theil auf die Schweiz; und zwar das Wassergebiet der Dranse und Arve, 145 Quadrat¬ stunden mit 160,000 Seelen. — Der Absatz aller Producte dieses Gebietes, d. h. des ganzen Chablais. Faucigny und eines Theils von Genevois geht nach dem großen Wasserbecken des Genfer Sees, nach Genf und den Städten und Ncbgeländen der Waadt; und die Bevölkerung dieses schweizer Gebietes ist für ihre Nahrungsbedürfnisse wesentlich auf jene savoyer Provinzen an¬ gewiesen, welche ihrerseits von Wallis und dem savoyer Hinterland durch hohe Gebirgsketten getrennt sind. So ist Genf der große Markt für diesen Theil des neutralisirten Savoyens. In Genf machen seine Bewohner ihre Einkäufe, dort suchen sie den Bankier oder ausleihenden Kapitalisten; an 10.000 Sa- voyarden finden dort Arbeit und Verdienst; die Industrie Genfs beschäftigt die Gebirgsbewohner bis in die höchsten Alpenthäler hinauf. So ist der größere Theil dieses Territoriums allerdings auch volkswirthschaftlich eine Appcrtinenz des genfer Gebietes. Dagegen öffnen sich die Gebiete der Gcbirgsbüche Ousses und Fier nach Westen, auf Annecy und Chcunb6ry, und die Beziehungen, welche dieser neutralisirte Theil zur Schweiz hat. sind schwächer. Die Lage der Schweiz inmitten mächtiger Militärstaaten gibt derselben bei allen Kämpfen, welche zwischen diesen ausbrechen, eine große strategische Bedeu¬ tung. Sie beherrscht in der Ccntralalpenkette auf eine Länge von 80 Stunden die Pässe nach Italien und außerdem die Quellenrcgionen der drei wichtigen Stromgebiete des Rheines, des Inns, beziehungsweise der Donau, und der Rhone.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/94>, abgerufen am 13.05.2024.