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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Diejenige Kriegsmacht, welche sich in der Schweiz festsetzt, müßte demnach
gegen ihren Feind einen großen strategischen Vorsprung gewinnen. Die Kriegs¬
ereignisse gerade derjenigen Epoche, welche dnrch die funfzehner Verträge ge¬
schlossen wurde, bestätigen die militärische Bedeutung des Schweizcrgcbiets.
Im Jahre 1798 setzten sich die französischen Kriegsheere darin fest; im folgen¬
den Jahre kämpften die Franzosen, Oestreicher und Nüssen um den Besitz des
ober" Rheinthales und der Alpenpässe von Bündten bis Wallis; 1800 führte
Napoleon seine Armee über Schweizerboden, den großen Se. Bernhard und
den Gotthard den in Piemont stehenden Oestreichern in Flanke und Rücken;
1813 setzte eine Armee der Alliirten bei Basel über den Rhein, um über
Schweizergebiet die französische Grenze zu erreichen. Zu gleichem Zwecke ging
ein östreichisches Heer über den Simplon in das Rhonethal. Das Gleiche
wiederholte sich nach der Wiedererscheinung Napoleons in Frankreich im Jahre
1815. -- Diese Thatsachen und Betrachtungen mußten genügen, um die Mächte
zu der Anerkennung und Gewährleistung der Neutralität der Schweiz zu ver¬
mögen und dabei feierlich auszusprechen. daß dieselbe dem wahren Interesse
aller europäischen Staaten entspreche.

Um der im Interesse liegenden Neutralität und Unverletzbarkeit des schwei¬
zerischen Gebietes einen sicherern Haltepunkt zu geben, mußte es im Bestreben
der nämlichen Mächte liegen, der Schweiz eine möglichst sichere militärische
Grenze zu verschaffen. Dies geschah theils durch Rückerstattung der von ihr
abgerissenen Gebietstheile, wie des Wallis. Genss, des Dnppenthals, theils
auch durch Einverleibung eines Theiles von Savoyen in das schweizerische
Nentralitätssystem. Hierbei waltete noch der specielle Gedanke vor, die unter
Napoleon gebaute Militärstraße über den Simplon, die in den neuesten Kriegen
eine so erhebliche Rolle gespielt hatte, vollständig zu neutralisiren, und den
Zugang zu derselben auch durch Hineinziehung Savoyens in das schweizerische
Vertheidignngssystem zu erschweren. In diesen Anschauungen liegt der eine
Beweggrund der Neutralisirung Savoyens.

Neben dieser europäischen Bedeutung der Frage lag es zugleich im Interesse
des Königs von Sardinien, die nach der Schweiz zu liegenden Theile Sa¬
voyens unter den Schutz der schweizerischen Neutralität zu stellen. Die Lage
eines Theiles von Savoyen ist von der Art, daß an eine wirksame directe
Vertheidigung desselben durch Piemont nicht zu denken ist. Ein Verbindung
mit Piemont ist nämlich nur über den Mont-Cenis und den kleinen Bernhard
gegeben; die Wiedervereinigung des Wallis mit der Schweiz schnitt dagegen
die Straße über den großen Bernhard und den Simplon ab. Ein feindliches
Heer, das im untern Theile von Savoyen durch die Thäler der Jsöre oder
des Fiel eindringt, kann demnach mit Leichtigkeit allen weiter nördlich stehen¬
den Mmontesischen Truppen den Rückzug über den Mont-Cenis und den kleinen


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Diejenige Kriegsmacht, welche sich in der Schweiz festsetzt, müßte demnach
gegen ihren Feind einen großen strategischen Vorsprung gewinnen. Die Kriegs¬
ereignisse gerade derjenigen Epoche, welche dnrch die funfzehner Verträge ge¬
schlossen wurde, bestätigen die militärische Bedeutung des Schweizcrgcbiets.
Im Jahre 1798 setzten sich die französischen Kriegsheere darin fest; im folgen¬
den Jahre kämpften die Franzosen, Oestreicher und Nüssen um den Besitz des
ober» Rheinthales und der Alpenpässe von Bündten bis Wallis; 1800 führte
Napoleon seine Armee über Schweizerboden, den großen Se. Bernhard und
den Gotthard den in Piemont stehenden Oestreichern in Flanke und Rücken;
1813 setzte eine Armee der Alliirten bei Basel über den Rhein, um über
Schweizergebiet die französische Grenze zu erreichen. Zu gleichem Zwecke ging
ein östreichisches Heer über den Simplon in das Rhonethal. Das Gleiche
wiederholte sich nach der Wiedererscheinung Napoleons in Frankreich im Jahre
1815. — Diese Thatsachen und Betrachtungen mußten genügen, um die Mächte
zu der Anerkennung und Gewährleistung der Neutralität der Schweiz zu ver¬
mögen und dabei feierlich auszusprechen. daß dieselbe dem wahren Interesse
aller europäischen Staaten entspreche.

Um der im Interesse liegenden Neutralität und Unverletzbarkeit des schwei¬
zerischen Gebietes einen sicherern Haltepunkt zu geben, mußte es im Bestreben
der nämlichen Mächte liegen, der Schweiz eine möglichst sichere militärische
Grenze zu verschaffen. Dies geschah theils durch Rückerstattung der von ihr
abgerissenen Gebietstheile, wie des Wallis. Genss, des Dnppenthals, theils
auch durch Einverleibung eines Theiles von Savoyen in das schweizerische
Nentralitätssystem. Hierbei waltete noch der specielle Gedanke vor, die unter
Napoleon gebaute Militärstraße über den Simplon, die in den neuesten Kriegen
eine so erhebliche Rolle gespielt hatte, vollständig zu neutralisiren, und den
Zugang zu derselben auch durch Hineinziehung Savoyens in das schweizerische
Vertheidignngssystem zu erschweren. In diesen Anschauungen liegt der eine
Beweggrund der Neutralisirung Savoyens.

Neben dieser europäischen Bedeutung der Frage lag es zugleich im Interesse
des Königs von Sardinien, die nach der Schweiz zu liegenden Theile Sa¬
voyens unter den Schutz der schweizerischen Neutralität zu stellen. Die Lage
eines Theiles von Savoyen ist von der Art, daß an eine wirksame directe
Vertheidigung desselben durch Piemont nicht zu denken ist. Ein Verbindung
mit Piemont ist nämlich nur über den Mont-Cenis und den kleinen Bernhard
gegeben; die Wiedervereinigung des Wallis mit der Schweiz schnitt dagegen
die Straße über den großen Bernhard und den Simplon ab. Ein feindliches
Heer, das im untern Theile von Savoyen durch die Thäler der Jsöre oder
des Fiel eindringt, kann demnach mit Leichtigkeit allen weiter nördlich stehen¬
den Mmontesischen Truppen den Rückzug über den Mont-Cenis und den kleinen


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[0095] Diejenige Kriegsmacht, welche sich in der Schweiz festsetzt, müßte demnach gegen ihren Feind einen großen strategischen Vorsprung gewinnen. Die Kriegs¬ ereignisse gerade derjenigen Epoche, welche dnrch die funfzehner Verträge ge¬ schlossen wurde, bestätigen die militärische Bedeutung des Schweizcrgcbiets. Im Jahre 1798 setzten sich die französischen Kriegsheere darin fest; im folgen¬ den Jahre kämpften die Franzosen, Oestreicher und Nüssen um den Besitz des ober» Rheinthales und der Alpenpässe von Bündten bis Wallis; 1800 führte Napoleon seine Armee über Schweizerboden, den großen Se. Bernhard und den Gotthard den in Piemont stehenden Oestreichern in Flanke und Rücken; 1813 setzte eine Armee der Alliirten bei Basel über den Rhein, um über Schweizergebiet die französische Grenze zu erreichen. Zu gleichem Zwecke ging ein östreichisches Heer über den Simplon in das Rhonethal. Das Gleiche wiederholte sich nach der Wiedererscheinung Napoleons in Frankreich im Jahre 1815. — Diese Thatsachen und Betrachtungen mußten genügen, um die Mächte zu der Anerkennung und Gewährleistung der Neutralität der Schweiz zu ver¬ mögen und dabei feierlich auszusprechen. daß dieselbe dem wahren Interesse aller europäischen Staaten entspreche. Um der im Interesse liegenden Neutralität und Unverletzbarkeit des schwei¬ zerischen Gebietes einen sicherern Haltepunkt zu geben, mußte es im Bestreben der nämlichen Mächte liegen, der Schweiz eine möglichst sichere militärische Grenze zu verschaffen. Dies geschah theils durch Rückerstattung der von ihr abgerissenen Gebietstheile, wie des Wallis. Genss, des Dnppenthals, theils auch durch Einverleibung eines Theiles von Savoyen in das schweizerische Nentralitätssystem. Hierbei waltete noch der specielle Gedanke vor, die unter Napoleon gebaute Militärstraße über den Simplon, die in den neuesten Kriegen eine so erhebliche Rolle gespielt hatte, vollständig zu neutralisiren, und den Zugang zu derselben auch durch Hineinziehung Savoyens in das schweizerische Vertheidignngssystem zu erschweren. In diesen Anschauungen liegt der eine Beweggrund der Neutralisirung Savoyens. Neben dieser europäischen Bedeutung der Frage lag es zugleich im Interesse des Königs von Sardinien, die nach der Schweiz zu liegenden Theile Sa¬ voyens unter den Schutz der schweizerischen Neutralität zu stellen. Die Lage eines Theiles von Savoyen ist von der Art, daß an eine wirksame directe Vertheidigung desselben durch Piemont nicht zu denken ist. Ein Verbindung mit Piemont ist nämlich nur über den Mont-Cenis und den kleinen Bernhard gegeben; die Wiedervereinigung des Wallis mit der Schweiz schnitt dagegen die Straße über den großen Bernhard und den Simplon ab. Ein feindliches Heer, das im untern Theile von Savoyen durch die Thäler der Jsöre oder des Fiel eindringt, kann demnach mit Leichtigkeit allen weiter nördlich stehen¬ den Mmontesischen Truppen den Rückzug über den Mont-Cenis und den kleinen 11*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/95>, abgerufen am 28.05.2024.