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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Westen kommenden Feind kann auch weit erfolgreicher ans savoyischen Boden
als an der Wallisergrenze geführt werden; denn die am leichtesten zu verthei¬
digenden Desilecn der dem Genfersee entlang führenden Simplonstraße finden
sich über der Schweizergrenze hinaus bei Meillerie. und das Aehnliche ist der
Fall mit den Passen und Saumpfaden, die vom Chnmvunythal und dem Ge¬
biete der Dranse "ach Wallis hinüberführen; auch diese Pässe können durch
Aufstellungen auf der savoyischen Seite viel wirksamer vertheidigt werden. In
diesen schweizerischen Sicherheits- und Vertheidigungs-Interessen liegt, der
dritte Beweggrund der Neutralisirung Savoyens.

Wenn über die Beweggründe, welche die Neutralisirung Savoyens ver¬
anlaßten, kein Zweifel waltet, so fragt es sich, ob dieselben unter den heutigen
Verhältnissen noch ihre Geltung haben? Diese Frage muß unbedingt bejaht
werden. Für Europa zunächst ist die Neutralität der Schweiz und damit auch
der angrenzenden Provinzen Savoyens heute noch von ganz gleicher Bedeu¬
tung wie im Jahre 1815. Durch die Führung der Eisenbahn an den Fuß
des Mont-Cenis auf beiden Seiten der Alpen hat zwar die Simplon¬
straße als Militärstraße ihre frühere Bedeutung scheinbar nicht mehr; allein
nur scheinbar, denn es hängt rein davon ab. welche Staaten sich jeweilen
gegenüber stehen. Geschieht es wie im neuesten italienischen Kriege, wo
Sardinien der Verbündete Frankreichs, und für die Alliirten das Meer of¬
fen war, so fällt der Simplonpaß weniger in Betracht, obschon bei einem
siegreichen Vorrücken der Oestreicher auf Turin einer französischen Armee die
Versuchung hätte nahe liegen können, über den Simplon ihnen in Flanke
und Rücken zu fallen, ähnlich wie Bonaparte im Jahr 1800 es that. Sollte
aber in einem neuen Kriege Sardinien Gegner Frankreichs und durch eine
Theilnahme Englands am Kriege die Communication zur See unsicher sein,
so wäre die Bedeutung des Simplonpasses wieder vollständig da, und zwar
um so mehr, als auch hier in nicht ferner Zeit die Eisenbahnen auf beiden
Seiten der Alpen bis nahe an deren Fuß vorgerückt sein werden. (Aroma
und Sitten).

Für Sardinien liegt die Frage heute ebenfalls noch gleich wie im Jahre
1815. So lange es mit Frankreich verbündet ist, bedarf es freilich für seine
savoyischen Provinzen den Schutz der europäisch garantirten Neutralität nicht;
allein wenn die Allianzverhältnisse sich ändern sollten, so steht Sardinien wie¬
der in der frühern Lage. Seine Vergrößerung jenseits der Alpen ist wohl
geeignet, ihm eine größere Machtstellung in Italien zu geben; aber sie setzt
es nicht in den Stand, seine diesseits der Alpen liegenden savoyischen Pro¬
vinzen wirksamer zu vertheidigen, als bis anhin. Und da in Folge der neuen
Gestaltungen in Italien der sardinische Staat, so wie die italienische Nation
voraussichtlich in direktere und einflußreichere Beziehungen zum europäischen


Westen kommenden Feind kann auch weit erfolgreicher ans savoyischen Boden
als an der Wallisergrenze geführt werden; denn die am leichtesten zu verthei¬
digenden Desilecn der dem Genfersee entlang führenden Simplonstraße finden
sich über der Schweizergrenze hinaus bei Meillerie. und das Aehnliche ist der
Fall mit den Passen und Saumpfaden, die vom Chnmvunythal und dem Ge¬
biete der Dranse »ach Wallis hinüberführen; auch diese Pässe können durch
Aufstellungen auf der savoyischen Seite viel wirksamer vertheidigt werden. In
diesen schweizerischen Sicherheits- und Vertheidigungs-Interessen liegt, der
dritte Beweggrund der Neutralisirung Savoyens.

Wenn über die Beweggründe, welche die Neutralisirung Savoyens ver¬
anlaßten, kein Zweifel waltet, so fragt es sich, ob dieselben unter den heutigen
Verhältnissen noch ihre Geltung haben? Diese Frage muß unbedingt bejaht
werden. Für Europa zunächst ist die Neutralität der Schweiz und damit auch
der angrenzenden Provinzen Savoyens heute noch von ganz gleicher Bedeu¬
tung wie im Jahre 1815. Durch die Führung der Eisenbahn an den Fuß
des Mont-Cenis auf beiden Seiten der Alpen hat zwar die Simplon¬
straße als Militärstraße ihre frühere Bedeutung scheinbar nicht mehr; allein
nur scheinbar, denn es hängt rein davon ab. welche Staaten sich jeweilen
gegenüber stehen. Geschieht es wie im neuesten italienischen Kriege, wo
Sardinien der Verbündete Frankreichs, und für die Alliirten das Meer of¬
fen war, so fällt der Simplonpaß weniger in Betracht, obschon bei einem
siegreichen Vorrücken der Oestreicher auf Turin einer französischen Armee die
Versuchung hätte nahe liegen können, über den Simplon ihnen in Flanke
und Rücken zu fallen, ähnlich wie Bonaparte im Jahr 1800 es that. Sollte
aber in einem neuen Kriege Sardinien Gegner Frankreichs und durch eine
Theilnahme Englands am Kriege die Communication zur See unsicher sein,
so wäre die Bedeutung des Simplonpasses wieder vollständig da, und zwar
um so mehr, als auch hier in nicht ferner Zeit die Eisenbahnen auf beiden
Seiten der Alpen bis nahe an deren Fuß vorgerückt sein werden. (Aroma
und Sitten).

Für Sardinien liegt die Frage heute ebenfalls noch gleich wie im Jahre
1815. So lange es mit Frankreich verbündet ist, bedarf es freilich für seine
savoyischen Provinzen den Schutz der europäisch garantirten Neutralität nicht;
allein wenn die Allianzverhältnisse sich ändern sollten, so steht Sardinien wie¬
der in der frühern Lage. Seine Vergrößerung jenseits der Alpen ist wohl
geeignet, ihm eine größere Machtstellung in Italien zu geben; aber sie setzt
es nicht in den Stand, seine diesseits der Alpen liegenden savoyischen Pro¬
vinzen wirksamer zu vertheidigen, als bis anhin. Und da in Folge der neuen
Gestaltungen in Italien der sardinische Staat, so wie die italienische Nation
voraussichtlich in direktere und einflußreichere Beziehungen zum europäischen


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[0097] Westen kommenden Feind kann auch weit erfolgreicher ans savoyischen Boden als an der Wallisergrenze geführt werden; denn die am leichtesten zu verthei¬ digenden Desilecn der dem Genfersee entlang führenden Simplonstraße finden sich über der Schweizergrenze hinaus bei Meillerie. und das Aehnliche ist der Fall mit den Passen und Saumpfaden, die vom Chnmvunythal und dem Ge¬ biete der Dranse »ach Wallis hinüberführen; auch diese Pässe können durch Aufstellungen auf der savoyischen Seite viel wirksamer vertheidigt werden. In diesen schweizerischen Sicherheits- und Vertheidigungs-Interessen liegt, der dritte Beweggrund der Neutralisirung Savoyens. Wenn über die Beweggründe, welche die Neutralisirung Savoyens ver¬ anlaßten, kein Zweifel waltet, so fragt es sich, ob dieselben unter den heutigen Verhältnissen noch ihre Geltung haben? Diese Frage muß unbedingt bejaht werden. Für Europa zunächst ist die Neutralität der Schweiz und damit auch der angrenzenden Provinzen Savoyens heute noch von ganz gleicher Bedeu¬ tung wie im Jahre 1815. Durch die Führung der Eisenbahn an den Fuß des Mont-Cenis auf beiden Seiten der Alpen hat zwar die Simplon¬ straße als Militärstraße ihre frühere Bedeutung scheinbar nicht mehr; allein nur scheinbar, denn es hängt rein davon ab. welche Staaten sich jeweilen gegenüber stehen. Geschieht es wie im neuesten italienischen Kriege, wo Sardinien der Verbündete Frankreichs, und für die Alliirten das Meer of¬ fen war, so fällt der Simplonpaß weniger in Betracht, obschon bei einem siegreichen Vorrücken der Oestreicher auf Turin einer französischen Armee die Versuchung hätte nahe liegen können, über den Simplon ihnen in Flanke und Rücken zu fallen, ähnlich wie Bonaparte im Jahr 1800 es that. Sollte aber in einem neuen Kriege Sardinien Gegner Frankreichs und durch eine Theilnahme Englands am Kriege die Communication zur See unsicher sein, so wäre die Bedeutung des Simplonpasses wieder vollständig da, und zwar um so mehr, als auch hier in nicht ferner Zeit die Eisenbahnen auf beiden Seiten der Alpen bis nahe an deren Fuß vorgerückt sein werden. (Aroma und Sitten). Für Sardinien liegt die Frage heute ebenfalls noch gleich wie im Jahre 1815. So lange es mit Frankreich verbündet ist, bedarf es freilich für seine savoyischen Provinzen den Schutz der europäisch garantirten Neutralität nicht; allein wenn die Allianzverhältnisse sich ändern sollten, so steht Sardinien wie¬ der in der frühern Lage. Seine Vergrößerung jenseits der Alpen ist wohl geeignet, ihm eine größere Machtstellung in Italien zu geben; aber sie setzt es nicht in den Stand, seine diesseits der Alpen liegenden savoyischen Pro¬ vinzen wirksamer zu vertheidigen, als bis anhin. Und da in Folge der neuen Gestaltungen in Italien der sardinische Staat, so wie die italienische Nation voraussichtlich in direktere und einflußreichere Beziehungen zum europäischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/97>, abgerufen am 14.05.2024.