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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Bernhard abschneiden. Zudem erscheint es für Piemont überhaupt als eine
äußerst schwierige Aufgabe, die diesseits der Alpen gelegenen, gegen einen mäch¬
tigen Militärstaat hin durchaus offenen, savoyischen Provinzen im Falle eines
Angriffes ernstlich zu vertheidigen. Noch jedesmal, wenn die Geschichte Frank¬
reich und das Haus Savoyen im Kampfe sah. bildete Savoyen das erste Kriegs¬
object. Aus diesen Gründen nahm Sardinien ein wesentliches Interesse daran,
die an die Schweiz grenzenden Provinzen Savoyens unter den Schutz einer
europäisch anerkannten und gewährleisteten Neutralität gestellt und bei einer
allfälligen Abschneidung seinen Truppen den Rückzug durch das Wallis gesichert
zu sehen. Hierin liegt der zweite Beweggrund der Neutralisirung Savoyens.

Die Schweiz selbst mußte hohen Werth daraus setzen, zum Zwecke der
Vertheidigung ihres eigenen Gebietes und der Aufrechterhaltung ihrer eigenen
Neutralität besonders im Westen sich eine möglichst günstige Militärgrenze zu
verschaffen. Das Gebirge von Waadt und Genf reckt wie eine schmale Land¬
zunge zwischen die Grenzen Frankreichs und Savoyens hinein. Wäre die
Schweiz ans dieser Seite für ihre militärischen Ausstellungen auf ihre eigene
Grenze beschränkt, so hätte sie vom Mont-Dolent in Wallis bis an die äußerste
Genfergrenze eine Linie von mehr als 50 Stunden zu besetzen, die zudem fast
keine natürlichen Verthcidigungsstclleu darbietet, gegen Savoyen hin so we¬
nig wie gegen das am diesseitigen Fuße des Jura liegende Pays de Gex.
Diese Linie wäre bei einem erheblichen feindlichen Andrange unmöglich zu
halten, und es müßte die schweizerische Armee, um nicht Gefahr zu laufen,
von der eigenen Rückzugslinie abgeschnitten zu werden, auf die Vertheidigung
von Genf und der westlichen Theile von Waadt von vornherein verzichten.
Wesentlich günstiger gestalten sich dagegen die Verhältnisse, wenn das schwei¬
zerische Vertheidigungssystem auf die angrenzenden savoyischen Provinzen aus¬
gedehnt wird. Die Vertheidigungsgrenze zur Deckung des Wallis und der
ganzen südlichen Grenze der Waadt und Genfs reducirt sich alsdann auf die
Linie vo,in Col du Bonhomme bis an die Rhone bei dem Mont Vuache
oder dem Bach des Ousses mit einer Länge von nur 20 Stunden, und die¬
selbe ist überdies so beschaffen, daß kaum ein Dritttheil davon einer wirklichen
Bewachung und Besetzung bedarf und überall günstige militärische Positionen
sich bieten. Durch diese Linie wird Gens indirect auch gegen seine westliche
Grenze und des Pays de Gex gedeckt; denn wenn eine schweizerische Armee
den Mont Vuache und den Salöve besetzt hält, so ist für eine feindliche Armee
das Vorrücken auf Genf vom Westen oder Nordwesten her bereits viel gefähr¬
licher und eine unmittelbare Vertheidigung Genfs dann um so mehr möglich,
als die Eidgenossen nicht blos an die Rückzugslinie über Versoix gebunden
sind, sondern ihnen auch diejenige durch das Chablais offen steht. Die un¬
mittelbare Vertheidigung des Wallis und des Simplonpasses gegen einen vom


Bernhard abschneiden. Zudem erscheint es für Piemont überhaupt als eine
äußerst schwierige Aufgabe, die diesseits der Alpen gelegenen, gegen einen mäch¬
tigen Militärstaat hin durchaus offenen, savoyischen Provinzen im Falle eines
Angriffes ernstlich zu vertheidigen. Noch jedesmal, wenn die Geschichte Frank¬
reich und das Haus Savoyen im Kampfe sah. bildete Savoyen das erste Kriegs¬
object. Aus diesen Gründen nahm Sardinien ein wesentliches Interesse daran,
die an die Schweiz grenzenden Provinzen Savoyens unter den Schutz einer
europäisch anerkannten und gewährleisteten Neutralität gestellt und bei einer
allfälligen Abschneidung seinen Truppen den Rückzug durch das Wallis gesichert
zu sehen. Hierin liegt der zweite Beweggrund der Neutralisirung Savoyens.

Die Schweiz selbst mußte hohen Werth daraus setzen, zum Zwecke der
Vertheidigung ihres eigenen Gebietes und der Aufrechterhaltung ihrer eigenen
Neutralität besonders im Westen sich eine möglichst günstige Militärgrenze zu
verschaffen. Das Gebirge von Waadt und Genf reckt wie eine schmale Land¬
zunge zwischen die Grenzen Frankreichs und Savoyens hinein. Wäre die
Schweiz ans dieser Seite für ihre militärischen Ausstellungen auf ihre eigene
Grenze beschränkt, so hätte sie vom Mont-Dolent in Wallis bis an die äußerste
Genfergrenze eine Linie von mehr als 50 Stunden zu besetzen, die zudem fast
keine natürlichen Verthcidigungsstclleu darbietet, gegen Savoyen hin so we¬
nig wie gegen das am diesseitigen Fuße des Jura liegende Pays de Gex.
Diese Linie wäre bei einem erheblichen feindlichen Andrange unmöglich zu
halten, und es müßte die schweizerische Armee, um nicht Gefahr zu laufen,
von der eigenen Rückzugslinie abgeschnitten zu werden, auf die Vertheidigung
von Genf und der westlichen Theile von Waadt von vornherein verzichten.
Wesentlich günstiger gestalten sich dagegen die Verhältnisse, wenn das schwei¬
zerische Vertheidigungssystem auf die angrenzenden savoyischen Provinzen aus¬
gedehnt wird. Die Vertheidigungsgrenze zur Deckung des Wallis und der
ganzen südlichen Grenze der Waadt und Genfs reducirt sich alsdann auf die
Linie vo,in Col du Bonhomme bis an die Rhone bei dem Mont Vuache
oder dem Bach des Ousses mit einer Länge von nur 20 Stunden, und die¬
selbe ist überdies so beschaffen, daß kaum ein Dritttheil davon einer wirklichen
Bewachung und Besetzung bedarf und überall günstige militärische Positionen
sich bieten. Durch diese Linie wird Gens indirect auch gegen seine westliche
Grenze und des Pays de Gex gedeckt; denn wenn eine schweizerische Armee
den Mont Vuache und den Salöve besetzt hält, so ist für eine feindliche Armee
das Vorrücken auf Genf vom Westen oder Nordwesten her bereits viel gefähr¬
licher und eine unmittelbare Vertheidigung Genfs dann um so mehr möglich,
als die Eidgenossen nicht blos an die Rückzugslinie über Versoix gebunden
sind, sondern ihnen auch diejenige durch das Chablais offen steht. Die un¬
mittelbare Vertheidigung des Wallis und des Simplonpasses gegen einen vom


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[0096] Bernhard abschneiden. Zudem erscheint es für Piemont überhaupt als eine äußerst schwierige Aufgabe, die diesseits der Alpen gelegenen, gegen einen mäch¬ tigen Militärstaat hin durchaus offenen, savoyischen Provinzen im Falle eines Angriffes ernstlich zu vertheidigen. Noch jedesmal, wenn die Geschichte Frank¬ reich und das Haus Savoyen im Kampfe sah. bildete Savoyen das erste Kriegs¬ object. Aus diesen Gründen nahm Sardinien ein wesentliches Interesse daran, die an die Schweiz grenzenden Provinzen Savoyens unter den Schutz einer europäisch anerkannten und gewährleisteten Neutralität gestellt und bei einer allfälligen Abschneidung seinen Truppen den Rückzug durch das Wallis gesichert zu sehen. Hierin liegt der zweite Beweggrund der Neutralisirung Savoyens. Die Schweiz selbst mußte hohen Werth daraus setzen, zum Zwecke der Vertheidigung ihres eigenen Gebietes und der Aufrechterhaltung ihrer eigenen Neutralität besonders im Westen sich eine möglichst günstige Militärgrenze zu verschaffen. Das Gebirge von Waadt und Genf reckt wie eine schmale Land¬ zunge zwischen die Grenzen Frankreichs und Savoyens hinein. Wäre die Schweiz ans dieser Seite für ihre militärischen Ausstellungen auf ihre eigene Grenze beschränkt, so hätte sie vom Mont-Dolent in Wallis bis an die äußerste Genfergrenze eine Linie von mehr als 50 Stunden zu besetzen, die zudem fast keine natürlichen Verthcidigungsstclleu darbietet, gegen Savoyen hin so we¬ nig wie gegen das am diesseitigen Fuße des Jura liegende Pays de Gex. Diese Linie wäre bei einem erheblichen feindlichen Andrange unmöglich zu halten, und es müßte die schweizerische Armee, um nicht Gefahr zu laufen, von der eigenen Rückzugslinie abgeschnitten zu werden, auf die Vertheidigung von Genf und der westlichen Theile von Waadt von vornherein verzichten. Wesentlich günstiger gestalten sich dagegen die Verhältnisse, wenn das schwei¬ zerische Vertheidigungssystem auf die angrenzenden savoyischen Provinzen aus¬ gedehnt wird. Die Vertheidigungsgrenze zur Deckung des Wallis und der ganzen südlichen Grenze der Waadt und Genfs reducirt sich alsdann auf die Linie vo,in Col du Bonhomme bis an die Rhone bei dem Mont Vuache oder dem Bach des Ousses mit einer Länge von nur 20 Stunden, und die¬ selbe ist überdies so beschaffen, daß kaum ein Dritttheil davon einer wirklichen Bewachung und Besetzung bedarf und überall günstige militärische Positionen sich bieten. Durch diese Linie wird Gens indirect auch gegen seine westliche Grenze und des Pays de Gex gedeckt; denn wenn eine schweizerische Armee den Mont Vuache und den Salöve besetzt hält, so ist für eine feindliche Armee das Vorrücken auf Genf vom Westen oder Nordwesten her bereits viel gefähr¬ licher und eine unmittelbare Vertheidigung Genfs dann um so mehr möglich, als die Eidgenossen nicht blos an die Rückzugslinie über Versoix gebunden sind, sondern ihnen auch diejenige durch das Chablais offen steht. Die un¬ mittelbare Vertheidigung des Wallis und des Simplonpasses gegen einen vom

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/96>, abgerufen am 31.05.2024.