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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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lations- und Condolations-Carmina. Er lebte davon -- was übrigens da¬
mals nicht für unanständig galt. Diejenige Gclegenheitspoesie dagegen, von
der Goethe spricht, wenn er sie für die einzige echte Dichtung ausgibt, sagt
nichts anderes als: dichte nur bei Gelegenheit eines wirklichen Gefühls!
Von dieser Art sind -- im Gegensatz zur alten Schule, die Gedichte machte
ohne eine solche Gelegenheit -- diejenigen Poesien Günthers, die ihn in die
Reihe der wirklichen Dichter stellen. Von diesen, die vor Goethe das einzige
waren, weiß Gervinus nichts weiter zu sagen als folgendes:Z "Seine erotischen
Lieder sind oft sehr plump und platt." lKein einziges Wort weiter! nur
sagt er dann noch-.j "So ist auch sein Gesichtskreis im Ganzen sehr klein."

In der That ist die Liebe ein beschränktes Feld; indeß sind darüber seit
Salomo doch schon recht schöne Sachen gesagt worden. -- Gervinus hat bei
allen jenen Vorwürfen zu sehr die moderne Poesie vor Augen. Dieser, die es
unternimmt, Doctrinen über das Wesen Gottes, der Weiblichkeit u. s. w.
poetisch auszuarbeiten, kann man mit Recht vorhalten: erst lerne etwas, ehe
du lehrst! aber um seine Empfindungen warm und treu auszusprechen, oder
um das und jenes lächerlich zu finden, hat man nicht erst nöthig, die Wolf¬
ische Philosophie zu studiren -- damals gab es noch keine andere. Gün¬
thers Satiren gering zu schützen, hat Gervinus völlig recht, aber er verkennt
Günthers Bedeutung, wenn er ihn als einen, der eigentlich Reformator hätte
sein sollen, auffaßt: jene Satiren sind weiter nichts als subjective Stoßseufzer
oder subjectives -- mitunter ganz berechtigtes -- Gelächter.

Drastischer nach seiner Art, aber ungefähr in demselben Sinn, drückt sich
W. Menzel aus (Deutsche Dichtung. 1859, II. S. 345 -- 7). "Man hat
diesen eitlen Schwächling viel zu hoch gestellt. Welchen Werth hat eine Dich¬
tung, aus der man erfährt, ein liederlicher junger Mann sei der Trunkenheit
und Wollust erlegen, nachdem er sich eingebildet, ein großes Genie zu sein,
und in dieser Einbildung habe er über Gott und die Welt, die ihn nicht hoch
und sicher genug gestellt, geschimpft? Leider hat aber dieser Elende eine nur
zu hohe Bedeutung erlangt, weil in ihm zum erstenmal die Tendenz zur Ent¬
fesselung aller Begierden, zur Emancipation des Fleisches, zur Berechtigung
aller und jeder Unzucht zum Durchbruch kam . . . Die weitläufige, wässerichte
Sprache seiner Alexandriner wird nur dann durch eine echte Naturkraft unter¬
brochen, wenn sich Günther zügellos seiner Liederlichkeit und Gemeinheit über¬
läßt, wenn er an einem, der ihn getadelt, seine ganze Wuth auslassen will,
und wenn ihn in wenigen bessern Augenblicken das innere Entsetzen vor sei¬
nem Treiben ergreift und er auf Augenblicke tief reuig Buße thut, natürlich
nur so lange, bis er wieder besoffen ist." In diesem Ton geht es noch eine
Weile fort.

Cholevius (I. S. 407: 1854) in seiner milden Weise schließt sich doch


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lations- und Condolations-Carmina. Er lebte davon — was übrigens da¬
mals nicht für unanständig galt. Diejenige Gclegenheitspoesie dagegen, von
der Goethe spricht, wenn er sie für die einzige echte Dichtung ausgibt, sagt
nichts anderes als: dichte nur bei Gelegenheit eines wirklichen Gefühls!
Von dieser Art sind — im Gegensatz zur alten Schule, die Gedichte machte
ohne eine solche Gelegenheit — diejenigen Poesien Günthers, die ihn in die
Reihe der wirklichen Dichter stellen. Von diesen, die vor Goethe das einzige
waren, weiß Gervinus nichts weiter zu sagen als folgendes:Z „Seine erotischen
Lieder sind oft sehr plump und platt." lKein einziges Wort weiter! nur
sagt er dann noch-.j „So ist auch sein Gesichtskreis im Ganzen sehr klein."

In der That ist die Liebe ein beschränktes Feld; indeß sind darüber seit
Salomo doch schon recht schöne Sachen gesagt worden. — Gervinus hat bei
allen jenen Vorwürfen zu sehr die moderne Poesie vor Augen. Dieser, die es
unternimmt, Doctrinen über das Wesen Gottes, der Weiblichkeit u. s. w.
poetisch auszuarbeiten, kann man mit Recht vorhalten: erst lerne etwas, ehe
du lehrst! aber um seine Empfindungen warm und treu auszusprechen, oder
um das und jenes lächerlich zu finden, hat man nicht erst nöthig, die Wolf¬
ische Philosophie zu studiren — damals gab es noch keine andere. Gün¬
thers Satiren gering zu schützen, hat Gervinus völlig recht, aber er verkennt
Günthers Bedeutung, wenn er ihn als einen, der eigentlich Reformator hätte
sein sollen, auffaßt: jene Satiren sind weiter nichts als subjective Stoßseufzer
oder subjectives — mitunter ganz berechtigtes — Gelächter.

Drastischer nach seiner Art, aber ungefähr in demselben Sinn, drückt sich
W. Menzel aus (Deutsche Dichtung. 1859, II. S. 345 — 7). „Man hat
diesen eitlen Schwächling viel zu hoch gestellt. Welchen Werth hat eine Dich¬
tung, aus der man erfährt, ein liederlicher junger Mann sei der Trunkenheit
und Wollust erlegen, nachdem er sich eingebildet, ein großes Genie zu sein,
und in dieser Einbildung habe er über Gott und die Welt, die ihn nicht hoch
und sicher genug gestellt, geschimpft? Leider hat aber dieser Elende eine nur
zu hohe Bedeutung erlangt, weil in ihm zum erstenmal die Tendenz zur Ent¬
fesselung aller Begierden, zur Emancipation des Fleisches, zur Berechtigung
aller und jeder Unzucht zum Durchbruch kam . . . Die weitläufige, wässerichte
Sprache seiner Alexandriner wird nur dann durch eine echte Naturkraft unter¬
brochen, wenn sich Günther zügellos seiner Liederlichkeit und Gemeinheit über¬
läßt, wenn er an einem, der ihn getadelt, seine ganze Wuth auslassen will,
und wenn ihn in wenigen bessern Augenblicken das innere Entsetzen vor sei¬
nem Treiben ergreift und er auf Augenblicke tief reuig Buße thut, natürlich
nur so lange, bis er wieder besoffen ist." In diesem Ton geht es noch eine
Weile fort.

Cholevius (I. S. 407: 1854) in seiner milden Weise schließt sich doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/295>, abgerufen am 14.06.2024.