Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

-- Ich habe ein gemüthliches Interesse daran, sie mir als ungebunden vom
Körper zu denken; aber da mir alle Analogien fehlen, kann es mir auch nicht
gelingen, mir diesen Gedanken klar zu machen, ihn zu construiren.

Das gemüthliche Interesse wird durch den Glauben befriedigt. Der Glaube
heißt (freilich noch vieles Andere; wir haben uns öfters darüber ausgesprochen,
aber) hier nur: die Kraft des Geistes, sich im Interesse des Gemüths bei
einem nicht klaren, nicht construirbarer Gedanken, dem auch die Erfahrung nicht
zur Seite stehen kann, zu beruhigen. -- Wir nennen es Kraft; die Gründe
haben wir ein andermal angeführt; es kann freilich mitunter auch Schwäche
sein; der Glaube ist Kraft, insofern er unser Gemüth und unsern Willen stärkt
und adelt; er ist Schwäche, insofern er unsern Verstand verwirrt und träge
macht.

Hat die Wissenschaft ein Interesse, den Glauben zu bekämpfen? -- Nein,
solange der Glaube sich nicht in Aberglauben verwandelt. -- Er wird Aber¬
glaube, sobald er 1) die Gesetzmäßigkeit unsers Denkens beeinträchtigt, d. h.
mit wirklich erkannten, klaren und bestimmten Wahrheiten streitet; 2) unsern
Willen lahmt, 3) unser Gewissen verwirrt. --

Ein Beispiel. -- Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele befriedigt
theils ein gemüthliches, theils ein moralisches Interesse. -- Ein gemüthli¬
ches, denn die Liebe zu unserm Sein ist so natürlich und so stark, daß wir
ein völliges Aufhören desselben schwer denken können; ein moralisches, denn
wir wollen den Causalnexus auch in der sittlichen Welt verfolgen. -- Der
Verstand kommt dann dazu, diesen Glauben nach Analogien sich auszumalen,
nicht bloß bei den Philosophen, sondern auch bei den Theologen: denn die
moderne Annahme von der unmittelbaren Fortdauer nach dem Tode streitet
entschieden gegen die altchristliche Idee des Weltuntergangs, der darauf fol¬
genden Wiedererweckung der Todten und dem jüngsten Gericht. -- Die Phi¬
losophen haben mitunter Seelenwanderung gelehrt: doch auch nur ein Bild. --
Ob dieser Glaube für unser Verhalten auf Erden nothwendig sei, wird be¬
stritten; auf alle Fälle ist er nicht schädlich; denn wer nur aus dem gemeinen
Motiv, jenseit einen Lohn zu erhalten, gut handelt, würde ohne diesen Glau¬
ben noch schlechteren Motiven folgen.

Aber der Glaube wird zum Aberglauben, sobald er aus dem Gebiet des'
Jenseits ins Diesseits überspielt; sobald aus den Seelen Gespenster werden.
'Diesen Aberglauben hat die Wissenschaft zu bekämpfen, denn er schadet allen
Kräften des Menschen, dem Verstand, dem Willen, dem Gemüth. Daß die
Naturwissenschaft -- im Verein mit dem erhöhten sittlichen Gefühl, denn ohne
das wäre sie selbst unmächtig gewesen die Hexenprocesse abgeschafft hat,
ist einer der größten Fortschritte der neuen Zeit, und die Elberfelder Geschichten
verrathen deutlich, daß ihre Aufgabe noch durchaus nicht zu Ende ist. -- Der


— Ich habe ein gemüthliches Interesse daran, sie mir als ungebunden vom
Körper zu denken; aber da mir alle Analogien fehlen, kann es mir auch nicht
gelingen, mir diesen Gedanken klar zu machen, ihn zu construiren.

Das gemüthliche Interesse wird durch den Glauben befriedigt. Der Glaube
heißt (freilich noch vieles Andere; wir haben uns öfters darüber ausgesprochen,
aber) hier nur: die Kraft des Geistes, sich im Interesse des Gemüths bei
einem nicht klaren, nicht construirbarer Gedanken, dem auch die Erfahrung nicht
zur Seite stehen kann, zu beruhigen. — Wir nennen es Kraft; die Gründe
haben wir ein andermal angeführt; es kann freilich mitunter auch Schwäche
sein; der Glaube ist Kraft, insofern er unser Gemüth und unsern Willen stärkt
und adelt; er ist Schwäche, insofern er unsern Verstand verwirrt und träge
macht.

Hat die Wissenschaft ein Interesse, den Glauben zu bekämpfen? — Nein,
solange der Glaube sich nicht in Aberglauben verwandelt. — Er wird Aber¬
glaube, sobald er 1) die Gesetzmäßigkeit unsers Denkens beeinträchtigt, d. h.
mit wirklich erkannten, klaren und bestimmten Wahrheiten streitet; 2) unsern
Willen lahmt, 3) unser Gewissen verwirrt. —

Ein Beispiel. — Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele befriedigt
theils ein gemüthliches, theils ein moralisches Interesse. — Ein gemüthli¬
ches, denn die Liebe zu unserm Sein ist so natürlich und so stark, daß wir
ein völliges Aufhören desselben schwer denken können; ein moralisches, denn
wir wollen den Causalnexus auch in der sittlichen Welt verfolgen. — Der
Verstand kommt dann dazu, diesen Glauben nach Analogien sich auszumalen,
nicht bloß bei den Philosophen, sondern auch bei den Theologen: denn die
moderne Annahme von der unmittelbaren Fortdauer nach dem Tode streitet
entschieden gegen die altchristliche Idee des Weltuntergangs, der darauf fol¬
genden Wiedererweckung der Todten und dem jüngsten Gericht. — Die Phi¬
losophen haben mitunter Seelenwanderung gelehrt: doch auch nur ein Bild. —
Ob dieser Glaube für unser Verhalten auf Erden nothwendig sei, wird be¬
stritten; auf alle Fälle ist er nicht schädlich; denn wer nur aus dem gemeinen
Motiv, jenseit einen Lohn zu erhalten, gut handelt, würde ohne diesen Glau¬
ben noch schlechteren Motiven folgen.

Aber der Glaube wird zum Aberglauben, sobald er aus dem Gebiet des'
Jenseits ins Diesseits überspielt; sobald aus den Seelen Gespenster werden.
'Diesen Aberglauben hat die Wissenschaft zu bekämpfen, denn er schadet allen
Kräften des Menschen, dem Verstand, dem Willen, dem Gemüth. Daß die
Naturwissenschaft — im Verein mit dem erhöhten sittlichen Gefühl, denn ohne
das wäre sie selbst unmächtig gewesen die Hexenprocesse abgeschafft hat,
ist einer der größten Fortschritte der neuen Zeit, und die Elberfelder Geschichten
verrathen deutlich, daß ihre Aufgabe noch durchaus nicht zu Ende ist. — Der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0521" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111415"/>
          <p xml:id="ID_1742" prev="#ID_1741"> &#x2014; Ich habe ein gemüthliches Interesse daran, sie mir als ungebunden vom<lb/>
Körper zu denken; aber da mir alle Analogien fehlen, kann es mir auch nicht<lb/>
gelingen, mir diesen Gedanken klar zu machen, ihn zu construiren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1743"> Das gemüthliche Interesse wird durch den Glauben befriedigt. Der Glaube<lb/>
heißt (freilich noch vieles Andere; wir haben uns öfters darüber ausgesprochen,<lb/>
aber) hier nur: die Kraft des Geistes, sich im Interesse des Gemüths bei<lb/>
einem nicht klaren, nicht construirbarer Gedanken, dem auch die Erfahrung nicht<lb/>
zur Seite stehen kann, zu beruhigen. &#x2014; Wir nennen es Kraft; die Gründe<lb/>
haben wir ein andermal angeführt; es kann freilich mitunter auch Schwäche<lb/>
sein; der Glaube ist Kraft, insofern er unser Gemüth und unsern Willen stärkt<lb/>
und adelt; er ist Schwäche, insofern er unsern Verstand verwirrt und träge<lb/>
macht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1744"> Hat die Wissenschaft ein Interesse, den Glauben zu bekämpfen? &#x2014; Nein,<lb/>
solange der Glaube sich nicht in Aberglauben verwandelt. &#x2014; Er wird Aber¬<lb/>
glaube, sobald er 1) die Gesetzmäßigkeit unsers Denkens beeinträchtigt, d. h.<lb/>
mit wirklich erkannten, klaren und bestimmten Wahrheiten streitet; 2) unsern<lb/>
Willen lahmt, 3) unser Gewissen verwirrt. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1745"> Ein Beispiel. &#x2014; Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele befriedigt<lb/>
theils ein gemüthliches, theils ein moralisches Interesse. &#x2014; Ein gemüthli¬<lb/>
ches, denn die Liebe zu unserm Sein ist so natürlich und so stark, daß wir<lb/>
ein völliges Aufhören desselben schwer denken können; ein moralisches, denn<lb/>
wir wollen den Causalnexus auch in der sittlichen Welt verfolgen. &#x2014; Der<lb/>
Verstand kommt dann dazu, diesen Glauben nach Analogien sich auszumalen,<lb/>
nicht bloß bei den Philosophen, sondern auch bei den Theologen: denn die<lb/>
moderne Annahme von der unmittelbaren Fortdauer nach dem Tode streitet<lb/>
entschieden gegen die altchristliche Idee des Weltuntergangs, der darauf fol¬<lb/>
genden Wiedererweckung der Todten und dem jüngsten Gericht. &#x2014; Die Phi¬<lb/>
losophen haben mitunter Seelenwanderung gelehrt: doch auch nur ein Bild. &#x2014;<lb/>
Ob dieser Glaube für unser Verhalten auf Erden nothwendig sei, wird be¬<lb/>
stritten; auf alle Fälle ist er nicht schädlich; denn wer nur aus dem gemeinen<lb/>
Motiv, jenseit einen Lohn zu erhalten, gut handelt, würde ohne diesen Glau¬<lb/>
ben noch schlechteren Motiven folgen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1746" next="#ID_1747"> Aber der Glaube wird zum Aberglauben, sobald er aus dem Gebiet des'<lb/>
Jenseits ins Diesseits überspielt; sobald aus den Seelen Gespenster werden.<lb/>
'Diesen Aberglauben hat die Wissenschaft zu bekämpfen, denn er schadet allen<lb/>
Kräften des Menschen, dem Verstand, dem Willen, dem Gemüth. Daß die<lb/>
Naturwissenschaft &#x2014; im Verein mit dem erhöhten sittlichen Gefühl, denn ohne<lb/>
das wäre sie selbst unmächtig gewesen die Hexenprocesse abgeschafft hat,<lb/>
ist einer der größten Fortschritte der neuen Zeit, und die Elberfelder Geschichten<lb/>
verrathen deutlich, daß ihre Aufgabe noch durchaus nicht zu Ende ist. &#x2014; Der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0521] — Ich habe ein gemüthliches Interesse daran, sie mir als ungebunden vom Körper zu denken; aber da mir alle Analogien fehlen, kann es mir auch nicht gelingen, mir diesen Gedanken klar zu machen, ihn zu construiren. Das gemüthliche Interesse wird durch den Glauben befriedigt. Der Glaube heißt (freilich noch vieles Andere; wir haben uns öfters darüber ausgesprochen, aber) hier nur: die Kraft des Geistes, sich im Interesse des Gemüths bei einem nicht klaren, nicht construirbarer Gedanken, dem auch die Erfahrung nicht zur Seite stehen kann, zu beruhigen. — Wir nennen es Kraft; die Gründe haben wir ein andermal angeführt; es kann freilich mitunter auch Schwäche sein; der Glaube ist Kraft, insofern er unser Gemüth und unsern Willen stärkt und adelt; er ist Schwäche, insofern er unsern Verstand verwirrt und träge macht. Hat die Wissenschaft ein Interesse, den Glauben zu bekämpfen? — Nein, solange der Glaube sich nicht in Aberglauben verwandelt. — Er wird Aber¬ glaube, sobald er 1) die Gesetzmäßigkeit unsers Denkens beeinträchtigt, d. h. mit wirklich erkannten, klaren und bestimmten Wahrheiten streitet; 2) unsern Willen lahmt, 3) unser Gewissen verwirrt. — Ein Beispiel. — Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele befriedigt theils ein gemüthliches, theils ein moralisches Interesse. — Ein gemüthli¬ ches, denn die Liebe zu unserm Sein ist so natürlich und so stark, daß wir ein völliges Aufhören desselben schwer denken können; ein moralisches, denn wir wollen den Causalnexus auch in der sittlichen Welt verfolgen. — Der Verstand kommt dann dazu, diesen Glauben nach Analogien sich auszumalen, nicht bloß bei den Philosophen, sondern auch bei den Theologen: denn die moderne Annahme von der unmittelbaren Fortdauer nach dem Tode streitet entschieden gegen die altchristliche Idee des Weltuntergangs, der darauf fol¬ genden Wiedererweckung der Todten und dem jüngsten Gericht. — Die Phi¬ losophen haben mitunter Seelenwanderung gelehrt: doch auch nur ein Bild. — Ob dieser Glaube für unser Verhalten auf Erden nothwendig sei, wird be¬ stritten; auf alle Fälle ist er nicht schädlich; denn wer nur aus dem gemeinen Motiv, jenseit einen Lohn zu erhalten, gut handelt, würde ohne diesen Glau¬ ben noch schlechteren Motiven folgen. Aber der Glaube wird zum Aberglauben, sobald er aus dem Gebiet des' Jenseits ins Diesseits überspielt; sobald aus den Seelen Gespenster werden. 'Diesen Aberglauben hat die Wissenschaft zu bekämpfen, denn er schadet allen Kräften des Menschen, dem Verstand, dem Willen, dem Gemüth. Daß die Naturwissenschaft — im Verein mit dem erhöhten sittlichen Gefühl, denn ohne das wäre sie selbst unmächtig gewesen die Hexenprocesse abgeschafft hat, ist einer der größten Fortschritte der neuen Zeit, und die Elberfelder Geschichten verrathen deutlich, daß ihre Aufgabe noch durchaus nicht zu Ende ist. — Der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/521
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/521>, abgerufen am 17.06.2024.