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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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vorigen Jahrhunderts eigenthümlich war, so vollständig wiedergibt, wie keine
andere Poesie, und daß gerade darauf ein Theil der großen Wirkung beruht,
welche Schillers Dramen noch jetzt aus das Volk ausüben. Allerdings nur
ein Theil, denn die Größe des Dichters liegt gerade darin, daß er, welcher
seinen Charakteren auch in bewegten Momenten so viele Ruhepunkte zumuthet, die¬
selben doch in höchster Spannung zu erhalten weiß; sie alle haben ein
starkes, begeistertes, oft rücksichtsloses inneres Leben, einen Inhalt, für wel¬
chen sie das Aeußerste wagen. In dieser Befangenheit machen sie zuweilen
den Eindruck von Nachtwandlern, denen die Störung durch die Außenwelt
Verhüngniß wird, so die Jungfrau, Wallenstein, Max, Thekla, oder die we¬
nigstens eines mächtigen Anstoßes an ihr inneres Leben bedürfen, um zu einer
That zu kommen, so Teil, selbst Cäsar und Manuel. Deshalb ist die leiden¬
schaftliche Bewegung der Hauptcharaktere Schillers im letzten Grunde doch
nicht immer dramatisch, aber auch diese Unvollkommenheit wird wieder verdeckt durch
das reiche Leben und die schöne Charakteristik, mit welcher er die helfenden
Nebenfiguren ausstattet. Endlich ist der größte Fortschritt, welchen die deutsche
Kunst durch ihn gemacht, daß er in gewaltigen tragischen Stoffen seine Per¬
sonen zu Theilnehmern einer Handlung macht, welche nicht mehr die Bezie¬
hungen des Privatlebens, sondern die höchsten Verhältnisse der Menschen,
Staat, Glauben, zum Hintergrunde haben. Für junge Dichter und Darsteller
freilich wird seine Schönheit und Kraft immer gefährlich sein, weil das innere
Leben seiner Charaktere überreichlich in der Rede ausströmt, er thut so viel,
daß dem Schauspieler manchmal wenig zu schaffen übrig bleibt, seine Dramen
bedürfen weniger der Bühne, als die eines anderen Dichters.

Diese Bemerkungen werben hier zu bestimmtem Zwecke gemacht. Da
der junge Dichter bei uns nur schwer in die kleinen Geheimnisse des dra¬
matischen Schaffens eindringt, so ist für ihn eines der besten Hilfsmittel,
das Wesen dramatischer Charaktere zu verstehen, wenn er einzelne Rollen
unserer großen Dichter sich Satz für Satz, Scene für Scene auseinan¬
der legt. Möchte das Wenige, was hier gesagt wurde, aufmerksam machen,
wie weit die genannten Dichter Förderung zu geben geeignet sind. Trotz
Allem, was uns von Shakespeare scheidet, ist doch er gerade für das Stu¬
dium der Charaktere die höchste Autorität, für den Anfänger keine seiner
großen Rollen lehrreicher, als die des Coriolan und Macbeth; unter den
Deutschen aber fördert nach dieser Richtung am meisten Lessing. Außer dem
Prinzen und Marinelli sind aber für das Selbststudium von besonderem Interesse
die für die Bühne zu breit ausgeführten Charaktere in Sara Sampson.

Ueber einige allgemeine Regeln des dramatischen Charakterisirens und
über die Rücksichten, welche die Bühne dem Dichter dabei auferlegt, in der näch¬
sten Nummer.




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vorigen Jahrhunderts eigenthümlich war, so vollständig wiedergibt, wie keine
andere Poesie, und daß gerade darauf ein Theil der großen Wirkung beruht,
welche Schillers Dramen noch jetzt aus das Volk ausüben. Allerdings nur
ein Theil, denn die Größe des Dichters liegt gerade darin, daß er, welcher
seinen Charakteren auch in bewegten Momenten so viele Ruhepunkte zumuthet, die¬
selben doch in höchster Spannung zu erhalten weiß; sie alle haben ein
starkes, begeistertes, oft rücksichtsloses inneres Leben, einen Inhalt, für wel¬
chen sie das Aeußerste wagen. In dieser Befangenheit machen sie zuweilen
den Eindruck von Nachtwandlern, denen die Störung durch die Außenwelt
Verhüngniß wird, so die Jungfrau, Wallenstein, Max, Thekla, oder die we¬
nigstens eines mächtigen Anstoßes an ihr inneres Leben bedürfen, um zu einer
That zu kommen, so Teil, selbst Cäsar und Manuel. Deshalb ist die leiden¬
schaftliche Bewegung der Hauptcharaktere Schillers im letzten Grunde doch
nicht immer dramatisch, aber auch diese Unvollkommenheit wird wieder verdeckt durch
das reiche Leben und die schöne Charakteristik, mit welcher er die helfenden
Nebenfiguren ausstattet. Endlich ist der größte Fortschritt, welchen die deutsche
Kunst durch ihn gemacht, daß er in gewaltigen tragischen Stoffen seine Per¬
sonen zu Theilnehmern einer Handlung macht, welche nicht mehr die Bezie¬
hungen des Privatlebens, sondern die höchsten Verhältnisse der Menschen,
Staat, Glauben, zum Hintergrunde haben. Für junge Dichter und Darsteller
freilich wird seine Schönheit und Kraft immer gefährlich sein, weil das innere
Leben seiner Charaktere überreichlich in der Rede ausströmt, er thut so viel,
daß dem Schauspieler manchmal wenig zu schaffen übrig bleibt, seine Dramen
bedürfen weniger der Bühne, als die eines anderen Dichters.

Diese Bemerkungen werben hier zu bestimmtem Zwecke gemacht. Da
der junge Dichter bei uns nur schwer in die kleinen Geheimnisse des dra¬
matischen Schaffens eindringt, so ist für ihn eines der besten Hilfsmittel,
das Wesen dramatischer Charaktere zu verstehen, wenn er einzelne Rollen
unserer großen Dichter sich Satz für Satz, Scene für Scene auseinan¬
der legt. Möchte das Wenige, was hier gesagt wurde, aufmerksam machen,
wie weit die genannten Dichter Förderung zu geben geeignet sind. Trotz
Allem, was uns von Shakespeare scheidet, ist doch er gerade für das Stu¬
dium der Charaktere die höchste Autorität, für den Anfänger keine seiner
großen Rollen lehrreicher, als die des Coriolan und Macbeth; unter den
Deutschen aber fördert nach dieser Richtung am meisten Lessing. Außer dem
Prinzen und Marinelli sind aber für das Selbststudium von besonderem Interesse
die für die Bühne zu breit ausgeführten Charaktere in Sara Sampson.

Ueber einige allgemeine Regeln des dramatischen Charakterisirens und
über die Rücksichten, welche die Bühne dem Dichter dabei auferlegt, in der näch¬
sten Nummer.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/157>, abgerufen am 24.05.2024.