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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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digere" kann man sich nicht denken. In >der Erziehung der Kinder spiegelt
sich der grade Gegensatz des Princips ab, welches der Staat für die Erziehung
seiner Unterthanen anwendet. Hier blindes, stupides Gehorchen, für jede
Uebertretung der Tod; dort sanftmüthiges, unerschöpflich geduldiges Ueberreden
und Ueberzeugen, fast niemals Strafe, oder doch wenigstens die denkbar mil¬
deste. Niemals habe ich ein Kind strafen sehen, nirgends ein Instrument
entdeckt, welches auf einen derartigen Gebrauch hinwiese; ich kann mich kaum
entsinnen, jemals Kindergeschrei gehört zu haben. So viel kann ich jeden¬
falls versichern, daß ich nirgends so durchgängig wohlerzogene, artige und
liebenswürdige Kinder gesehen habe als in Japan. Ich weiß nicht, woher
es kommen mag, aber so oft ich dies Erziehungssystem auch bei uns in
Anwendung gesehen habe, fand ich die Resultate doch niemals so günstig;
wenigstens waren die so Erzogenen, so lange sie Kinder waren, meistentheils
unartige, eigensinnige und wenig liebenswürdige Kinder. Allerdings muß sich
zur Nachsicht die positive Belehrung gesellen.

So bildet die Familie ein geschlossenes, ich möchte sagen unabhängiges
System im großen Organismus der Gesellschaft, einen Theil, der nach an¬
deren Gesetzen rotirt als das Ganze.

Es zeigt dies aufs Neue, wie unmöglich es ist'> für die Beurtheilung
japanischer Zustände einen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus sich alle
Verhältnisse, als der Ausdruck einer einheitlichen Lebensanschauung, entziffern
und erklären lassen. Ueberall stoßen wir auf Widersprüche, auf Gegensätze.
Der Gesammtorganismus ist ein merkwürdiges Conglomerat von verschiedenen
abgebrochenen Gedanken, die durch einen Kitt, den wir nicht zu analysuen
vermögen, wunderbar zu einem dennoch zusammenwirkenden Gcufzen vereinigt
sind. Nichts scheint dem Japaner überhaupt ferner zu liegen, als das Er¬
fassen und Durchführen eines Princips.

Ob sie z. B. ein Gesetzbuch haben, in welchem sich irgend ein Philoso.
vhisch-juristischer Gedanke abspiegelt, wie im römischen oder germanischen
Recht, kann ich zwar mit Bestimmtheit nicht sagen, bezweifle es aber. Alles
was ich vom japanischen Leben gesehen habe, berechtigt mich zu der Ansicht,
daß dies Gesetzbuch höchst wahrscheinlich nur ein Conglomerat von "Fällen"
ist. Die Japaner sind, wie gesagt, kein Volk von Principien; ihre ganze Ge¬
lehrsamkeit ist aus lauter ..Fällen" zusammengesetzt. Ist einmal Etwas geschehen,
so kann es wieder geschehen. Manche Illustration aus meiner eigenen Erfah¬
rung könnte dazu gegeben werden; ich ziehe es indessen vor. eine kleine Ge¬
schichte hier einzuflechten. die Thunberg erzählt und die mir vollständig cha¬
rakteristisch erscheint. Als er im vorigen Jahrhundert als Arzt und Natur-
forscher im Dienste der hollündisch-ostindischen Compagnie nach Nangasaki
kam und wie alle Holländer dajelbst aus der kleinen Insel Desima gleichsam


digere« kann man sich nicht denken. In >der Erziehung der Kinder spiegelt
sich der grade Gegensatz des Princips ab, welches der Staat für die Erziehung
seiner Unterthanen anwendet. Hier blindes, stupides Gehorchen, für jede
Uebertretung der Tod; dort sanftmüthiges, unerschöpflich geduldiges Ueberreden
und Ueberzeugen, fast niemals Strafe, oder doch wenigstens die denkbar mil¬
deste. Niemals habe ich ein Kind strafen sehen, nirgends ein Instrument
entdeckt, welches auf einen derartigen Gebrauch hinwiese; ich kann mich kaum
entsinnen, jemals Kindergeschrei gehört zu haben. So viel kann ich jeden¬
falls versichern, daß ich nirgends so durchgängig wohlerzogene, artige und
liebenswürdige Kinder gesehen habe als in Japan. Ich weiß nicht, woher
es kommen mag, aber so oft ich dies Erziehungssystem auch bei uns in
Anwendung gesehen habe, fand ich die Resultate doch niemals so günstig;
wenigstens waren die so Erzogenen, so lange sie Kinder waren, meistentheils
unartige, eigensinnige und wenig liebenswürdige Kinder. Allerdings muß sich
zur Nachsicht die positive Belehrung gesellen.

So bildet die Familie ein geschlossenes, ich möchte sagen unabhängiges
System im großen Organismus der Gesellschaft, einen Theil, der nach an¬
deren Gesetzen rotirt als das Ganze.

Es zeigt dies aufs Neue, wie unmöglich es ist'> für die Beurtheilung
japanischer Zustände einen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus sich alle
Verhältnisse, als der Ausdruck einer einheitlichen Lebensanschauung, entziffern
und erklären lassen. Ueberall stoßen wir auf Widersprüche, auf Gegensätze.
Der Gesammtorganismus ist ein merkwürdiges Conglomerat von verschiedenen
abgebrochenen Gedanken, die durch einen Kitt, den wir nicht zu analysuen
vermögen, wunderbar zu einem dennoch zusammenwirkenden Gcufzen vereinigt
sind. Nichts scheint dem Japaner überhaupt ferner zu liegen, als das Er¬
fassen und Durchführen eines Princips.

Ob sie z. B. ein Gesetzbuch haben, in welchem sich irgend ein Philoso.
vhisch-juristischer Gedanke abspiegelt, wie im römischen oder germanischen
Recht, kann ich zwar mit Bestimmtheit nicht sagen, bezweifle es aber. Alles
was ich vom japanischen Leben gesehen habe, berechtigt mich zu der Ansicht,
daß dies Gesetzbuch höchst wahrscheinlich nur ein Conglomerat von „Fällen"
ist. Die Japaner sind, wie gesagt, kein Volk von Principien; ihre ganze Ge¬
lehrsamkeit ist aus lauter ..Fällen" zusammengesetzt. Ist einmal Etwas geschehen,
so kann es wieder geschehen. Manche Illustration aus meiner eigenen Erfah¬
rung könnte dazu gegeben werden; ich ziehe es indessen vor. eine kleine Ge¬
schichte hier einzuflechten. die Thunberg erzählt und die mir vollständig cha¬
rakteristisch erscheint. Als er im vorigen Jahrhundert als Arzt und Natur-
forscher im Dienste der hollündisch-ostindischen Compagnie nach Nangasaki
kam und wie alle Holländer dajelbst aus der kleinen Insel Desima gleichsam


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/321>, abgerufen am 24.05.2024.