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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Die Sondergeliiste Deutschtirols.

Es ist doch eine eigenthümliche Sache um diese alpenhaften Leute, die am
Fuß der rhätischen Granitblöcke Hausen. Auch wenn man Vorarlberg hinzu¬
nimmt, zählen sie nur etwa 800,000 Köpfe, dcsscuohngeachtct theilen sie sich in
drei verschiedene einander schroff gegenüberstehende Gruppen. Die jenseits
des Arlberges neigen zum deutschen Mutterlande hin, Industrie und Verkehr
ließ trotz der östreichischen Absperrung immer noch so viele frische Luft herein,
daß der altgermanische Sinn für Freiheit nicht erstickte und über das Stre¬
ben seiner Nachbarn fleißig Buch hielt. Das Gegentheil davon muß man
den Deutschtirolern nachsagen. Wie die Bürger der schweizerischen Urkantone,
die auch um den Urstock der Gletscher wohnen, sind sie abgesagte Feinde je¬
der Neuerung, fest verrannt in mittelalterliche Begriffe, in Glaubenssachen
fanatisch, Knechte der Pfaffen. Sonderbar genug denken ihre nächsten An¬
rainer, welche die wälsche Zunge sprechen, trotz derselben bigotten Erziehung
liberal, sie hassen die Deutschen, weil sie darunter nur die Oestreicher verstehen,
die das intelligenteste Volk der Welt sür nicht politisch mündiger hielten, als
die Panduren und Zigeuner; der mit dem Bannfluch des Papstes belastete
Victor Emanuel von Sardinien ist der König ihrer Herzen und ihr künftiger
Befreier. Hört man die Redner des Tags, so haben wir es aus diesen et¬
lichen Quadratmeilen deutscher Erde mit drei verschiedenen "historisch-politischen"
Nationalitäten zu thun, die Geschichte der Vorzeit scheint wie vergessen, näher
betrachtet tragen die östreichischen Volkspädagogen die größte Schuld an die¬
sem Familienzwicspalt. Despotie und Jesuitismus reichten seit 300 Jahren
aus, um alle Völker und Stämme, alle Geister und Zungen des weiten Rei¬
ches in einen Kreis zu bannen, den die Schwarzkünstler selbst halb im Schlum¬
mer beherrschten. Nach manchem kurzen Intermezzo kam man immer auf die
Hilfe derselben Zauberformel zurück, die schon so oft Wunder gethan. Selbst
donnernde Weckruf des Jahres 1843 war nicht vermögend, die frommen
.Schläfer völlig zu ermuntern. Am Ende galt das Concordat, ein Sublimat
der Retorte von 1565, nicht nur als das Symbol, sondern auch als der Nerv
der Einheit des Kaiserstaates. Vorgeschwebt hatte es zwar schon dem Kaiser


Grenzboten II, 1861. 41
Die Sondergeliiste Deutschtirols.

Es ist doch eine eigenthümliche Sache um diese alpenhaften Leute, die am
Fuß der rhätischen Granitblöcke Hausen. Auch wenn man Vorarlberg hinzu¬
nimmt, zählen sie nur etwa 800,000 Köpfe, dcsscuohngeachtct theilen sie sich in
drei verschiedene einander schroff gegenüberstehende Gruppen. Die jenseits
des Arlberges neigen zum deutschen Mutterlande hin, Industrie und Verkehr
ließ trotz der östreichischen Absperrung immer noch so viele frische Luft herein,
daß der altgermanische Sinn für Freiheit nicht erstickte und über das Stre¬
ben seiner Nachbarn fleißig Buch hielt. Das Gegentheil davon muß man
den Deutschtirolern nachsagen. Wie die Bürger der schweizerischen Urkantone,
die auch um den Urstock der Gletscher wohnen, sind sie abgesagte Feinde je¬
der Neuerung, fest verrannt in mittelalterliche Begriffe, in Glaubenssachen
fanatisch, Knechte der Pfaffen. Sonderbar genug denken ihre nächsten An¬
rainer, welche die wälsche Zunge sprechen, trotz derselben bigotten Erziehung
liberal, sie hassen die Deutschen, weil sie darunter nur die Oestreicher verstehen,
die das intelligenteste Volk der Welt sür nicht politisch mündiger hielten, als
die Panduren und Zigeuner; der mit dem Bannfluch des Papstes belastete
Victor Emanuel von Sardinien ist der König ihrer Herzen und ihr künftiger
Befreier. Hört man die Redner des Tags, so haben wir es aus diesen et¬
lichen Quadratmeilen deutscher Erde mit drei verschiedenen „historisch-politischen"
Nationalitäten zu thun, die Geschichte der Vorzeit scheint wie vergessen, näher
betrachtet tragen die östreichischen Volkspädagogen die größte Schuld an die¬
sem Familienzwicspalt. Despotie und Jesuitismus reichten seit 300 Jahren
aus, um alle Völker und Stämme, alle Geister und Zungen des weiten Rei¬
ches in einen Kreis zu bannen, den die Schwarzkünstler selbst halb im Schlum¬
mer beherrschten. Nach manchem kurzen Intermezzo kam man immer auf die
Hilfe derselben Zauberformel zurück, die schon so oft Wunder gethan. Selbst
donnernde Weckruf des Jahres 1843 war nicht vermögend, die frommen
.Schläfer völlig zu ermuntern. Am Ende galt das Concordat, ein Sublimat
der Retorte von 1565, nicht nur als das Symbol, sondern auch als der Nerv
der Einheit des Kaiserstaates. Vorgeschwebt hatte es zwar schon dem Kaiser


Grenzboten II, 1861. 41
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[0331] Die Sondergeliiste Deutschtirols. Es ist doch eine eigenthümliche Sache um diese alpenhaften Leute, die am Fuß der rhätischen Granitblöcke Hausen. Auch wenn man Vorarlberg hinzu¬ nimmt, zählen sie nur etwa 800,000 Köpfe, dcsscuohngeachtct theilen sie sich in drei verschiedene einander schroff gegenüberstehende Gruppen. Die jenseits des Arlberges neigen zum deutschen Mutterlande hin, Industrie und Verkehr ließ trotz der östreichischen Absperrung immer noch so viele frische Luft herein, daß der altgermanische Sinn für Freiheit nicht erstickte und über das Stre¬ ben seiner Nachbarn fleißig Buch hielt. Das Gegentheil davon muß man den Deutschtirolern nachsagen. Wie die Bürger der schweizerischen Urkantone, die auch um den Urstock der Gletscher wohnen, sind sie abgesagte Feinde je¬ der Neuerung, fest verrannt in mittelalterliche Begriffe, in Glaubenssachen fanatisch, Knechte der Pfaffen. Sonderbar genug denken ihre nächsten An¬ rainer, welche die wälsche Zunge sprechen, trotz derselben bigotten Erziehung liberal, sie hassen die Deutschen, weil sie darunter nur die Oestreicher verstehen, die das intelligenteste Volk der Welt sür nicht politisch mündiger hielten, als die Panduren und Zigeuner; der mit dem Bannfluch des Papstes belastete Victor Emanuel von Sardinien ist der König ihrer Herzen und ihr künftiger Befreier. Hört man die Redner des Tags, so haben wir es aus diesen et¬ lichen Quadratmeilen deutscher Erde mit drei verschiedenen „historisch-politischen" Nationalitäten zu thun, die Geschichte der Vorzeit scheint wie vergessen, näher betrachtet tragen die östreichischen Volkspädagogen die größte Schuld an die¬ sem Familienzwicspalt. Despotie und Jesuitismus reichten seit 300 Jahren aus, um alle Völker und Stämme, alle Geister und Zungen des weiten Rei¬ ches in einen Kreis zu bannen, den die Schwarzkünstler selbst halb im Schlum¬ mer beherrschten. Nach manchem kurzen Intermezzo kam man immer auf die Hilfe derselben Zauberformel zurück, die schon so oft Wunder gethan. Selbst donnernde Weckruf des Jahres 1843 war nicht vermögend, die frommen .Schläfer völlig zu ermuntern. Am Ende galt das Concordat, ein Sublimat der Retorte von 1565, nicht nur als das Symbol, sondern auch als der Nerv der Einheit des Kaiserstaates. Vorgeschwebt hatte es zwar schon dem Kaiser Grenzboten II, 1861. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/331>, abgerufen am 16.06.2024.