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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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nichts ohne den Geist, der sie belebt. Preußen kann nur dadurch Forsckrittc
machen, daß es sich an die Spitze der nationalen und liberalen Ideen stellt,
die jetzt die bewegende Macht Europas sind.

Man sehe sich in Europa um! Der Mann, der das schärfste Gefühl
für das hat. was die Zeit erfordert, ruft, nicht aus Sympathie, sondern um
auf der Höhe der Bewegung zu bleiben, diese Mächte ohne äußern Zwang
in seinem eigenen Staat ins Leben: er kann es. weil sich wirklich heraus¬
stellt, daß seine Politik ungefähr in der Weise Frankreich vertritt, wie in der
Mechanik die Diagonale das Parallelogramm der Kräfte; weil sich ferner
herausstellt, daß er diese Politik früher erfaßt hat als das Volk selbst; daß
er also wirklich an der Spitze steht. Wenn Preußen die liberale und natio¬
nale Idee nicht für sich ausbeutet, so wird es sie sich als Gegner gegenüber
sehen. Man möge die polnische Bewegung nicht unterschätzen; an sich betrach¬
tet würde sie machtlos sein, sie gibt aber den Feinden Preußens eine gefähr¬
liche Waffe in die Hand: Frankreich oder auch -- Rußland -- es sind schon
wunderbarere Dinge in der Welt geschehen! Man erwäge doch unsre Lage gegen
Dänemark: ist es nicht bitter, wenn der dänische Commissär bedauert, den
Holsteinern die Freiheit im gewünschten Maß nicht geben zu können, weil sie
sich mit den Bundesgesetzen nicht vertrage? Bitter, weil ein starkes Korn
Wahrheit darin ist. Bor Allem aber richte man seine Aufmerksamkeit auf
Oestreich.

Was hier eigentlich vorgeht, ist wohl Niemandem vollständig klar, viel¬
leicht am wenigsten den Oestreichern selbst. In den Wahlreden hören wir
wieder die alten Phrasen von 1848 und zwar diesseit und jenseit der Leitha.
Die Regierung könnte den besten Willen von der Welt haben und würde
doch nicht alle Parteien befriedigen. Es ist ein furchtbar gefährliches Experi¬
ment, ein Experiment, bei dem der Staat seinen Untergang finden kann.

Aber es ist auch möglich, daß er ihm seine Wiedergeburt verdankt.
Bisher hat sich die Regierung sehr geschickt benommen. Welches Entsetzen
muß es in Preußen erregen, wenn die östreichischen Minister für Berger
stimmen, den Führer der äußersten Linken in der Paulskirche! Sie stimmen
für ihn, weil er ein guter Oestreicher ist; radical oder nicht, das ist Neben¬
sache! Die Regierung ging von der Nothwendigkeit aus. Ungarn zu gewinnen,
sie basirte ihren Plan wesentlich auf das Föderativstem. Wie zu erwarten,
wurden die Ungarn in ihren Anforderungen unmäßig, aber schon ist es ge-
lungen, sie in eine Lage zu bringen, daß sie mit ihren weiteren Schritten sehr
behutsam sein müssen. Es ist wider Erwarten gelungen, die Südslaven im
östreichischen Sinn zu organisiren; es gelingt jetzt, die deutschen Provinzen
für die Idee Oestreichs zu elektrisiren. Bor einem Jahr hätte man ein solches
Resultat für unmöglich gehalten: bei der Mehrzahl der Bevölkerung war Oese-


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nichts ohne den Geist, der sie belebt. Preußen kann nur dadurch Forsckrittc
machen, daß es sich an die Spitze der nationalen und liberalen Ideen stellt,
die jetzt die bewegende Macht Europas sind.

Man sehe sich in Europa um! Der Mann, der das schärfste Gefühl
für das hat. was die Zeit erfordert, ruft, nicht aus Sympathie, sondern um
auf der Höhe der Bewegung zu bleiben, diese Mächte ohne äußern Zwang
in seinem eigenen Staat ins Leben: er kann es. weil sich wirklich heraus¬
stellt, daß seine Politik ungefähr in der Weise Frankreich vertritt, wie in der
Mechanik die Diagonale das Parallelogramm der Kräfte; weil sich ferner
herausstellt, daß er diese Politik früher erfaßt hat als das Volk selbst; daß
er also wirklich an der Spitze steht. Wenn Preußen die liberale und natio¬
nale Idee nicht für sich ausbeutet, so wird es sie sich als Gegner gegenüber
sehen. Man möge die polnische Bewegung nicht unterschätzen; an sich betrach¬
tet würde sie machtlos sein, sie gibt aber den Feinden Preußens eine gefähr¬
liche Waffe in die Hand: Frankreich oder auch — Rußland — es sind schon
wunderbarere Dinge in der Welt geschehen! Man erwäge doch unsre Lage gegen
Dänemark: ist es nicht bitter, wenn der dänische Commissär bedauert, den
Holsteinern die Freiheit im gewünschten Maß nicht geben zu können, weil sie
sich mit den Bundesgesetzen nicht vertrage? Bitter, weil ein starkes Korn
Wahrheit darin ist. Bor Allem aber richte man seine Aufmerksamkeit auf
Oestreich.

Was hier eigentlich vorgeht, ist wohl Niemandem vollständig klar, viel¬
leicht am wenigsten den Oestreichern selbst. In den Wahlreden hören wir
wieder die alten Phrasen von 1848 und zwar diesseit und jenseit der Leitha.
Die Regierung könnte den besten Willen von der Welt haben und würde
doch nicht alle Parteien befriedigen. Es ist ein furchtbar gefährliches Experi¬
ment, ein Experiment, bei dem der Staat seinen Untergang finden kann.

Aber es ist auch möglich, daß er ihm seine Wiedergeburt verdankt.
Bisher hat sich die Regierung sehr geschickt benommen. Welches Entsetzen
muß es in Preußen erregen, wenn die östreichischen Minister für Berger
stimmen, den Führer der äußersten Linken in der Paulskirche! Sie stimmen
für ihn, weil er ein guter Oestreicher ist; radical oder nicht, das ist Neben¬
sache! Die Regierung ging von der Nothwendigkeit aus. Ungarn zu gewinnen,
sie basirte ihren Plan wesentlich auf das Föderativstem. Wie zu erwarten,
wurden die Ungarn in ihren Anforderungen unmäßig, aber schon ist es ge-
lungen, sie in eine Lage zu bringen, daß sie mit ihren weiteren Schritten sehr
behutsam sein müssen. Es ist wider Erwarten gelungen, die Südslaven im
östreichischen Sinn zu organisiren; es gelingt jetzt, die deutschen Provinzen
für die Idee Oestreichs zu elektrisiren. Bor einem Jahr hätte man ein solches
Resultat für unmöglich gehalten: bei der Mehrzahl der Bevölkerung war Oese-


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[0045] nichts ohne den Geist, der sie belebt. Preußen kann nur dadurch Forsckrittc machen, daß es sich an die Spitze der nationalen und liberalen Ideen stellt, die jetzt die bewegende Macht Europas sind. Man sehe sich in Europa um! Der Mann, der das schärfste Gefühl für das hat. was die Zeit erfordert, ruft, nicht aus Sympathie, sondern um auf der Höhe der Bewegung zu bleiben, diese Mächte ohne äußern Zwang in seinem eigenen Staat ins Leben: er kann es. weil sich wirklich heraus¬ stellt, daß seine Politik ungefähr in der Weise Frankreich vertritt, wie in der Mechanik die Diagonale das Parallelogramm der Kräfte; weil sich ferner herausstellt, daß er diese Politik früher erfaßt hat als das Volk selbst; daß er also wirklich an der Spitze steht. Wenn Preußen die liberale und natio¬ nale Idee nicht für sich ausbeutet, so wird es sie sich als Gegner gegenüber sehen. Man möge die polnische Bewegung nicht unterschätzen; an sich betrach¬ tet würde sie machtlos sein, sie gibt aber den Feinden Preußens eine gefähr¬ liche Waffe in die Hand: Frankreich oder auch — Rußland — es sind schon wunderbarere Dinge in der Welt geschehen! Man erwäge doch unsre Lage gegen Dänemark: ist es nicht bitter, wenn der dänische Commissär bedauert, den Holsteinern die Freiheit im gewünschten Maß nicht geben zu können, weil sie sich mit den Bundesgesetzen nicht vertrage? Bitter, weil ein starkes Korn Wahrheit darin ist. Bor Allem aber richte man seine Aufmerksamkeit auf Oestreich. Was hier eigentlich vorgeht, ist wohl Niemandem vollständig klar, viel¬ leicht am wenigsten den Oestreichern selbst. In den Wahlreden hören wir wieder die alten Phrasen von 1848 und zwar diesseit und jenseit der Leitha. Die Regierung könnte den besten Willen von der Welt haben und würde doch nicht alle Parteien befriedigen. Es ist ein furchtbar gefährliches Experi¬ ment, ein Experiment, bei dem der Staat seinen Untergang finden kann. Aber es ist auch möglich, daß er ihm seine Wiedergeburt verdankt. Bisher hat sich die Regierung sehr geschickt benommen. Welches Entsetzen muß es in Preußen erregen, wenn die östreichischen Minister für Berger stimmen, den Führer der äußersten Linken in der Paulskirche! Sie stimmen für ihn, weil er ein guter Oestreicher ist; radical oder nicht, das ist Neben¬ sache! Die Regierung ging von der Nothwendigkeit aus. Ungarn zu gewinnen, sie basirte ihren Plan wesentlich auf das Föderativstem. Wie zu erwarten, wurden die Ungarn in ihren Anforderungen unmäßig, aber schon ist es ge- lungen, sie in eine Lage zu bringen, daß sie mit ihren weiteren Schritten sehr behutsam sein müssen. Es ist wider Erwarten gelungen, die Südslaven im östreichischen Sinn zu organisiren; es gelingt jetzt, die deutschen Provinzen für die Idee Oestreichs zu elektrisiren. Bor einem Jahr hätte man ein solches Resultat für unmöglich gehalten: bei der Mehrzahl der Bevölkerung war Oese- 5'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/45>, abgerufen am 24.05.2024.