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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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richtig und angemessen. Wenige Offiziere in Europa haben richtigere Be¬
griffe. Mit großem Widerwillen genehmigte der Kaiser von Rußland den
Rückzug; aber die Wahrheit war. daß wir Alle vor Dresden verfault wären:
einzunehmen war es nicht bei einer Besatzung von mehr als 200,000 Mann,
die Bonaparte hineinwerfen oder mit der er von Königstein und Torgau
gegen uns manövriren konnte. Was der Feind und das Fieber nicht todten
würde, mußte der Hunger bald vernichten, da die Communicationslinie für
die Zufuhr von Lebensmitteln u. s. w. aus Böhmen nicht praktikabel war.
Sowie der Befehl gegeben war, begann die Ausführung sofort. Gegen
7 Uhr verließen die Häupter die Wahlstatt."

Bei Culm schlugen sich zwei, noch nicht im Feuer gewesene, preußische
Landwehrregimenter schlecht und die Artillerie des Kleist'sehen Corps hatte das
Mißgeschick, in dem Engpaß, den sie eben herabfuhr, von der sich durchschla¬
genden französischen Cavallerie übcrritten zu werden. Da dies unter den
Augen Wilsons geschehen war. so glaubte er noch geringschätziger von den
Preußischen Truppen urtheilen zu müssen, als bisher, und er nimmt die Mel¬
dung von dem Siege an der Kaizbach. die am Tage nach der Culmer Schlacht
in das preußische Hauptquartier gelangte, sehr ungläubig auf. "Ich muß erst
alle Einzelnheiten wissen", sagt er, "ehe ich glauben kann, daß die Preußen
diesen Sieg durch Waffengewalt gegen eine, nur einigermaßen gleich große
Heeresmacht erfochten haben; so gering schätze ich die Preußen, wegen ihres
Mangels an Offizieren und Kriegserfahrung." Ebenso ungläubig hört er die
Nachricht von dem Siege bei Dennewitz. "Es ist seltsam, daß bei so großen
angeblichen Erfolgen auf dem andern Ufer der Elbe, Bonaparte immer noch
im Stande ist, uns eine so große Streitmacht entgegen zu stellen. Ich hoffe,
wir werden nicht schließlich mehr Gefangene gemacht haben, als jemals Feinde
vorhanden waren." Diesen letzten Satz hat der Verfasser unterstrichen.
Selbst noch Ende September bleibt er bei seiner Meinung, erachtet die außer¬
halb Böhmen erfochtenen Bordseite für gering und das damals im Werke
befindliche Vorrücken nach Sachsen für höchst gefährlich. Er war ganz von
den Vorstellungen des östreichischen Hauptquartiers beherrscht und für die bis
nur Zaghaftigkeit vorsichtigen Pläne desselben eingenommen. In seiner falschen
Beurtheilung der Sachlage bestärkte ihn Benningsen, der mit seinem Heeres¬
theile in Böhmen eingetroffen war. Er theilte mit. Blücher habe im Ganzen
"icht mehr als 6000 Gefangene gemacht (in Wirklichkeit waren es 18,000
bloß nach der Schlacht an der Katzbach); er habe seit dem 17. August min¬
destens 30,000 Mann verloren; die militärischen Operationen wären von
untergeordnetem Charakter gewesen (wie aus einer später mitgetheilten Denk¬
schrift Wilsons hervorgeht, in der Benningsens Angaben ebenfalls benutzt sind,
soll damit gesagt sein, daß in Schlesien nur partielle Gefechte, keine großen


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richtig und angemessen. Wenige Offiziere in Europa haben richtigere Be¬
griffe. Mit großem Widerwillen genehmigte der Kaiser von Rußland den
Rückzug; aber die Wahrheit war. daß wir Alle vor Dresden verfault wären:
einzunehmen war es nicht bei einer Besatzung von mehr als 200,000 Mann,
die Bonaparte hineinwerfen oder mit der er von Königstein und Torgau
gegen uns manövriren konnte. Was der Feind und das Fieber nicht todten
würde, mußte der Hunger bald vernichten, da die Communicationslinie für
die Zufuhr von Lebensmitteln u. s. w. aus Böhmen nicht praktikabel war.
Sowie der Befehl gegeben war, begann die Ausführung sofort. Gegen
7 Uhr verließen die Häupter die Wahlstatt."

Bei Culm schlugen sich zwei, noch nicht im Feuer gewesene, preußische
Landwehrregimenter schlecht und die Artillerie des Kleist'sehen Corps hatte das
Mißgeschick, in dem Engpaß, den sie eben herabfuhr, von der sich durchschla¬
genden französischen Cavallerie übcrritten zu werden. Da dies unter den
Augen Wilsons geschehen war. so glaubte er noch geringschätziger von den
Preußischen Truppen urtheilen zu müssen, als bisher, und er nimmt die Mel¬
dung von dem Siege an der Kaizbach. die am Tage nach der Culmer Schlacht
in das preußische Hauptquartier gelangte, sehr ungläubig auf. „Ich muß erst
alle Einzelnheiten wissen", sagt er, „ehe ich glauben kann, daß die Preußen
diesen Sieg durch Waffengewalt gegen eine, nur einigermaßen gleich große
Heeresmacht erfochten haben; so gering schätze ich die Preußen, wegen ihres
Mangels an Offizieren und Kriegserfahrung." Ebenso ungläubig hört er die
Nachricht von dem Siege bei Dennewitz. „Es ist seltsam, daß bei so großen
angeblichen Erfolgen auf dem andern Ufer der Elbe, Bonaparte immer noch
im Stande ist, uns eine so große Streitmacht entgegen zu stellen. Ich hoffe,
wir werden nicht schließlich mehr Gefangene gemacht haben, als jemals Feinde
vorhanden waren." Diesen letzten Satz hat der Verfasser unterstrichen.
Selbst noch Ende September bleibt er bei seiner Meinung, erachtet die außer¬
halb Böhmen erfochtenen Bordseite für gering und das damals im Werke
befindliche Vorrücken nach Sachsen für höchst gefährlich. Er war ganz von
den Vorstellungen des östreichischen Hauptquartiers beherrscht und für die bis
nur Zaghaftigkeit vorsichtigen Pläne desselben eingenommen. In seiner falschen
Beurtheilung der Sachlage bestärkte ihn Benningsen, der mit seinem Heeres¬
theile in Böhmen eingetroffen war. Er theilte mit. Blücher habe im Ganzen
"icht mehr als 6000 Gefangene gemacht (in Wirklichkeit waren es 18,000
bloß nach der Schlacht an der Katzbach); er habe seit dem 17. August min¬
destens 30,000 Mann verloren; die militärischen Operationen wären von
untergeordnetem Charakter gewesen (wie aus einer später mitgetheilten Denk¬
schrift Wilsons hervorgeht, in der Benningsens Angaben ebenfalls benutzt sind,
soll damit gesagt sein, daß in Schlesien nur partielle Gefechte, keine großen


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[0309] richtig und angemessen. Wenige Offiziere in Europa haben richtigere Be¬ griffe. Mit großem Widerwillen genehmigte der Kaiser von Rußland den Rückzug; aber die Wahrheit war. daß wir Alle vor Dresden verfault wären: einzunehmen war es nicht bei einer Besatzung von mehr als 200,000 Mann, die Bonaparte hineinwerfen oder mit der er von Königstein und Torgau gegen uns manövriren konnte. Was der Feind und das Fieber nicht todten würde, mußte der Hunger bald vernichten, da die Communicationslinie für die Zufuhr von Lebensmitteln u. s. w. aus Böhmen nicht praktikabel war. Sowie der Befehl gegeben war, begann die Ausführung sofort. Gegen 7 Uhr verließen die Häupter die Wahlstatt." Bei Culm schlugen sich zwei, noch nicht im Feuer gewesene, preußische Landwehrregimenter schlecht und die Artillerie des Kleist'sehen Corps hatte das Mißgeschick, in dem Engpaß, den sie eben herabfuhr, von der sich durchschla¬ genden französischen Cavallerie übcrritten zu werden. Da dies unter den Augen Wilsons geschehen war. so glaubte er noch geringschätziger von den Preußischen Truppen urtheilen zu müssen, als bisher, und er nimmt die Mel¬ dung von dem Siege an der Kaizbach. die am Tage nach der Culmer Schlacht in das preußische Hauptquartier gelangte, sehr ungläubig auf. „Ich muß erst alle Einzelnheiten wissen", sagt er, „ehe ich glauben kann, daß die Preußen diesen Sieg durch Waffengewalt gegen eine, nur einigermaßen gleich große Heeresmacht erfochten haben; so gering schätze ich die Preußen, wegen ihres Mangels an Offizieren und Kriegserfahrung." Ebenso ungläubig hört er die Nachricht von dem Siege bei Dennewitz. „Es ist seltsam, daß bei so großen angeblichen Erfolgen auf dem andern Ufer der Elbe, Bonaparte immer noch im Stande ist, uns eine so große Streitmacht entgegen zu stellen. Ich hoffe, wir werden nicht schließlich mehr Gefangene gemacht haben, als jemals Feinde vorhanden waren." Diesen letzten Satz hat der Verfasser unterstrichen. Selbst noch Ende September bleibt er bei seiner Meinung, erachtet die außer¬ halb Böhmen erfochtenen Bordseite für gering und das damals im Werke befindliche Vorrücken nach Sachsen für höchst gefährlich. Er war ganz von den Vorstellungen des östreichischen Hauptquartiers beherrscht und für die bis nur Zaghaftigkeit vorsichtigen Pläne desselben eingenommen. In seiner falschen Beurtheilung der Sachlage bestärkte ihn Benningsen, der mit seinem Heeres¬ theile in Böhmen eingetroffen war. Er theilte mit. Blücher habe im Ganzen "icht mehr als 6000 Gefangene gemacht (in Wirklichkeit waren es 18,000 bloß nach der Schlacht an der Katzbach); er habe seit dem 17. August min¬ destens 30,000 Mann verloren; die militärischen Operationen wären von untergeordnetem Charakter gewesen (wie aus einer später mitgetheilten Denk¬ schrift Wilsons hervorgeht, in der Benningsens Angaben ebenfalls benutzt sind, soll damit gesagt sein, daß in Schlesien nur partielle Gefechte, keine großen 33*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/309>, abgerufen am 17.06.2024.