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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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mondänen in's radicale Lager ist nicht der einzige Beweis dafür, daß in Frank¬
reich mehr als irgendwo die Extreme sich berühren. Die Rechtsidee als Basis
des Staates tritt ganzlich zurück. Alles ist. wie unter der alten Monarchie,
ausschließlich eine Machtfrage. Der Schwerpunkt der Macht liegt aber in den
Kammern; also ist es die wichtigste Aufgabe der Organe der Regierung, na¬
mentlich der Präfecten, für die Wahl gvuvernementaler Abgeordneten Sorge
zu tragen.. Es ist dies ja die Seite des französischen Constitutionalismus.
die auch außer Frankreich gerade von denen gern in Anwendung gebracht
wird, die aus den Mängeln des französischen Versassungslebens ihr Haupt¬
rüstzeug zur Bekämpfung des constitutionellen Princips überhaupt geschmiedet
haben.

Die Machtfülle, die einer jeden Negierung aus der administrativen Cen¬
tralisation erwuchs, wurde indessen reichlich aufgewogen durch die Gefahren,
die das System nothwendig mit sich brachte. Alle Säfte drängten sich natür¬
lich nach dem Kopfe und Herzen des großen Körpers; jede politische, jede so¬
ciale Discussion drehte sich sofort um das Centrum des Staates; und je un¬
bedingter die Gewalt der Regierung über ihre Organe war. um so furchtbarer
siel für jeden Fehler derselben die volle Verantwortlichkeit auf das Ministerium
zurück.

Eine Besserung der aus diesem Verhältnisse entspringenden Mängel war
schwierig, eben wegen der Vollkommenheit, mit der das centralisirende System
durch alle Stufen hindurch entwickelt war; jede Lücke in dem großen Trieb¬
werke drohte dem Ganzen Gefahr. Nicht mit Unrecht scheute man sich vor
Reformen, die das System in seinen Grundlagen erschüttern mußten, während
es doch an Bausteinen sür ein neues Fundament mangelte. Es galt langsam
und stetig etwas Neues zu schaffen. Aber hat es seit 131S denn eine Re¬
gierung gegeben, die zu solchem Werke Zeit und Muße gehabt hätte? Zeiten,
in denen jede Negierung vollständig von dem Kampfe um ihre Existenz in
Anspruch genommen wird, sind nicht geeignet zu Reformen, die eine Vermin¬
derung der Centralisation und eine theilweise Verlegung der Regierungsgewalt
bezwecken.

Noch ein anderes Moment ist in Betracht zu ziehen. Wo, wie in Eng-
land, auch in den engeren Kreisen der Gesellschaft ein selbständiges Leben sich
entwickelt hat, wo der Einzelne in seiner Sphäre sich frei bewegt und zufrie¬
den ist, wenn der Staat ihn in seiner Wirksamkeit nicht hindert, da beschränkt
sich die Zahl derer, die ein persönliches, selbstsüchtiges Interesse an dem Falle
einer Regierung haben, aus verhältnißmäßig Wenige. Anders in Frankreich!
Die Existenz einer zahllosen Menge von Personen ist an den Bestand der
Regierung geknüpft, aber eben so Viele bauen ihre Hoffnungen auf die Be¬
gründung einer neuen Regierung. Alle Staatsangehörigen aber fordern vom


Grenzboten IV. 1861. ' > 3S

mondänen in's radicale Lager ist nicht der einzige Beweis dafür, daß in Frank¬
reich mehr als irgendwo die Extreme sich berühren. Die Rechtsidee als Basis
des Staates tritt ganzlich zurück. Alles ist. wie unter der alten Monarchie,
ausschließlich eine Machtfrage. Der Schwerpunkt der Macht liegt aber in den
Kammern; also ist es die wichtigste Aufgabe der Organe der Regierung, na¬
mentlich der Präfecten, für die Wahl gvuvernementaler Abgeordneten Sorge
zu tragen.. Es ist dies ja die Seite des französischen Constitutionalismus.
die auch außer Frankreich gerade von denen gern in Anwendung gebracht
wird, die aus den Mängeln des französischen Versassungslebens ihr Haupt¬
rüstzeug zur Bekämpfung des constitutionellen Princips überhaupt geschmiedet
haben.

Die Machtfülle, die einer jeden Negierung aus der administrativen Cen¬
tralisation erwuchs, wurde indessen reichlich aufgewogen durch die Gefahren,
die das System nothwendig mit sich brachte. Alle Säfte drängten sich natür¬
lich nach dem Kopfe und Herzen des großen Körpers; jede politische, jede so¬
ciale Discussion drehte sich sofort um das Centrum des Staates; und je un¬
bedingter die Gewalt der Regierung über ihre Organe war. um so furchtbarer
siel für jeden Fehler derselben die volle Verantwortlichkeit auf das Ministerium
zurück.

Eine Besserung der aus diesem Verhältnisse entspringenden Mängel war
schwierig, eben wegen der Vollkommenheit, mit der das centralisirende System
durch alle Stufen hindurch entwickelt war; jede Lücke in dem großen Trieb¬
werke drohte dem Ganzen Gefahr. Nicht mit Unrecht scheute man sich vor
Reformen, die das System in seinen Grundlagen erschüttern mußten, während
es doch an Bausteinen sür ein neues Fundament mangelte. Es galt langsam
und stetig etwas Neues zu schaffen. Aber hat es seit 131S denn eine Re¬
gierung gegeben, die zu solchem Werke Zeit und Muße gehabt hätte? Zeiten,
in denen jede Negierung vollständig von dem Kampfe um ihre Existenz in
Anspruch genommen wird, sind nicht geeignet zu Reformen, die eine Vermin¬
derung der Centralisation und eine theilweise Verlegung der Regierungsgewalt
bezwecken.

Noch ein anderes Moment ist in Betracht zu ziehen. Wo, wie in Eng-
land, auch in den engeren Kreisen der Gesellschaft ein selbständiges Leben sich
entwickelt hat, wo der Einzelne in seiner Sphäre sich frei bewegt und zufrie¬
den ist, wenn der Staat ihn in seiner Wirksamkeit nicht hindert, da beschränkt
sich die Zahl derer, die ein persönliches, selbstsüchtiges Interesse an dem Falle
einer Regierung haben, aus verhältnißmäßig Wenige. Anders in Frankreich!
Die Existenz einer zahllosen Menge von Personen ist an den Bestand der
Regierung geknüpft, aber eben so Viele bauen ihre Hoffnungen auf die Be¬
gründung einer neuen Regierung. Alle Staatsangehörigen aber fordern vom


Grenzboten IV. 1861. ' > 3S
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[0315] mondänen in's radicale Lager ist nicht der einzige Beweis dafür, daß in Frank¬ reich mehr als irgendwo die Extreme sich berühren. Die Rechtsidee als Basis des Staates tritt ganzlich zurück. Alles ist. wie unter der alten Monarchie, ausschließlich eine Machtfrage. Der Schwerpunkt der Macht liegt aber in den Kammern; also ist es die wichtigste Aufgabe der Organe der Regierung, na¬ mentlich der Präfecten, für die Wahl gvuvernementaler Abgeordneten Sorge zu tragen.. Es ist dies ja die Seite des französischen Constitutionalismus. die auch außer Frankreich gerade von denen gern in Anwendung gebracht wird, die aus den Mängeln des französischen Versassungslebens ihr Haupt¬ rüstzeug zur Bekämpfung des constitutionellen Princips überhaupt geschmiedet haben. Die Machtfülle, die einer jeden Negierung aus der administrativen Cen¬ tralisation erwuchs, wurde indessen reichlich aufgewogen durch die Gefahren, die das System nothwendig mit sich brachte. Alle Säfte drängten sich natür¬ lich nach dem Kopfe und Herzen des großen Körpers; jede politische, jede so¬ ciale Discussion drehte sich sofort um das Centrum des Staates; und je un¬ bedingter die Gewalt der Regierung über ihre Organe war. um so furchtbarer siel für jeden Fehler derselben die volle Verantwortlichkeit auf das Ministerium zurück. Eine Besserung der aus diesem Verhältnisse entspringenden Mängel war schwierig, eben wegen der Vollkommenheit, mit der das centralisirende System durch alle Stufen hindurch entwickelt war; jede Lücke in dem großen Trieb¬ werke drohte dem Ganzen Gefahr. Nicht mit Unrecht scheute man sich vor Reformen, die das System in seinen Grundlagen erschüttern mußten, während es doch an Bausteinen sür ein neues Fundament mangelte. Es galt langsam und stetig etwas Neues zu schaffen. Aber hat es seit 131S denn eine Re¬ gierung gegeben, die zu solchem Werke Zeit und Muße gehabt hätte? Zeiten, in denen jede Negierung vollständig von dem Kampfe um ihre Existenz in Anspruch genommen wird, sind nicht geeignet zu Reformen, die eine Vermin¬ derung der Centralisation und eine theilweise Verlegung der Regierungsgewalt bezwecken. Noch ein anderes Moment ist in Betracht zu ziehen. Wo, wie in Eng- land, auch in den engeren Kreisen der Gesellschaft ein selbständiges Leben sich entwickelt hat, wo der Einzelne in seiner Sphäre sich frei bewegt und zufrie¬ den ist, wenn der Staat ihn in seiner Wirksamkeit nicht hindert, da beschränkt sich die Zahl derer, die ein persönliches, selbstsüchtiges Interesse an dem Falle einer Regierung haben, aus verhältnißmäßig Wenige. Anders in Frankreich! Die Existenz einer zahllosen Menge von Personen ist an den Bestand der Regierung geknüpft, aber eben so Viele bauen ihre Hoffnungen auf die Be¬ gründung einer neuen Regierung. Alle Staatsangehörigen aber fordern vom Grenzboten IV. 1861. ' > 3S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/315>, abgerufen am 16.05.2024.