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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Virtuosität der Darstellung, auf bestechende Erscheinung des Lebens ankam,
selbst Horace Bernet, wie er denn auch in der Musik im Gegensatz zu Mozart
Rossini gering schätzte. Und es that noth, daß bei den mancherlei romanti¬
schen und realistischen Bestrebungen die Form und die stylvolle Bildung des
menschlichen Körpers wieder zu Recht kamen. Was man auch von der Er¬
findung und der Komposition in Ingres' Bildern halten mag, die Behandlung
des menschlichen Baues im Fluß der Linien und in einer vollendeten Model-
lirung, die, ganz künstlerisch, dennoch den vollen Schein des Lebens erreicht,
ist von so großem Reize, daß sich das Auge in den Anblick der einzelnen ein¬
fachen Gestalt mit wahrem Genuß vertiefen kann. (So ist noch eine wunder¬
bare nackte Figur vom Jahre 1856. Ig. soures, ein Mädchen im Walde am
Rande der Quelle stehend und Wasser aus einer Urne in sie fließen lassend,
von zauberhafter Wirkung.) Es ist die Apotheose der menschlichen Form, in
der das Leben des Körpers wie verklärt ist und andererseits der Adel des ein¬
fachen auf sich beruhenden menschlichen Daseins seinen vollen Ausdruck erhalten
hat. Man mag allerdings den Mangel der Farbengluth des Fleisches um
so mehr entbehren, als die Modellirung die Wirklichkeit mit einer Täuschung
wiedergiebt, die sich nicht überbieten läßt, und als die Linie in die lebendige
Form gleichsam eindringt. Aber es ist. wie wenn die ideale Anschauung, in
der sich die Form von der zufälligen Realität läutert, mit dem satten Schein
der Farbe sich nicht vertrüge.

Stellen wir die deutsche und französische Kunst nebeneinander, um beide
in ihrem Entwicklungsgang zu vergleichen, so möchte wol, wo auf der fran¬
zösischen Seite Ingres steht, auf der deutschen Cornelius seinen Platz ein¬
nehmen. Beide waren ganz erfüllt von der Idee der großen, wahren Kunst,
beiden war es mit ihrem ganzen Thun und Denken tiefer, heiliger Ernst, beiden
war es um die ideale Darstellung des Menschen zu thun. Aber sonst wie
verschieden! Bei dem Deutschen eine seltene Kraft und Mannigfaltigkeit schöpfe¬
rischer Phantasie, daher eine große Fähigkeit der Composition, aber eine
Stumpfheit des Formgefühls und eine Unbildung in künstlerischer Beziehung,
die ihn seine Stoffe fast nie zum vollen Leben herausgestalten ließen. Bei
dem Franzosen dagegen ein mühsamer Proceß der Erfindung, eine Art von
Stocken im Fluß des Schaffens, das auch den Bildern das Gepräge der An¬
strengung ausdrückt, aber für die Form ein eminentes, durch und durch gebil¬
detes, zu hoher Meisterschaft entwickeltes Talent. Welche Werke hätte das
Jahrhundert aufzuweisen, wenn beide Kräfte zu einer vereinigt gewesen wären!
Aber fast scheint es, als ob unsere Zeit nicht der Boden sei, aus dem eine
solche ganze Persönlichkeit hervorgehen könnte; nur getrennt und auch dann
nur durch sorgfältige Pflege scheint in ihr ein gewisses Leben erhalten zu kön-


Virtuosität der Darstellung, auf bestechende Erscheinung des Lebens ankam,
selbst Horace Bernet, wie er denn auch in der Musik im Gegensatz zu Mozart
Rossini gering schätzte. Und es that noth, daß bei den mancherlei romanti¬
schen und realistischen Bestrebungen die Form und die stylvolle Bildung des
menschlichen Körpers wieder zu Recht kamen. Was man auch von der Er¬
findung und der Komposition in Ingres' Bildern halten mag, die Behandlung
des menschlichen Baues im Fluß der Linien und in einer vollendeten Model-
lirung, die, ganz künstlerisch, dennoch den vollen Schein des Lebens erreicht,
ist von so großem Reize, daß sich das Auge in den Anblick der einzelnen ein¬
fachen Gestalt mit wahrem Genuß vertiefen kann. (So ist noch eine wunder¬
bare nackte Figur vom Jahre 1856. Ig. soures, ein Mädchen im Walde am
Rande der Quelle stehend und Wasser aus einer Urne in sie fließen lassend,
von zauberhafter Wirkung.) Es ist die Apotheose der menschlichen Form, in
der das Leben des Körpers wie verklärt ist und andererseits der Adel des ein¬
fachen auf sich beruhenden menschlichen Daseins seinen vollen Ausdruck erhalten
hat. Man mag allerdings den Mangel der Farbengluth des Fleisches um
so mehr entbehren, als die Modellirung die Wirklichkeit mit einer Täuschung
wiedergiebt, die sich nicht überbieten läßt, und als die Linie in die lebendige
Form gleichsam eindringt. Aber es ist. wie wenn die ideale Anschauung, in
der sich die Form von der zufälligen Realität läutert, mit dem satten Schein
der Farbe sich nicht vertrüge.

Stellen wir die deutsche und französische Kunst nebeneinander, um beide
in ihrem Entwicklungsgang zu vergleichen, so möchte wol, wo auf der fran¬
zösischen Seite Ingres steht, auf der deutschen Cornelius seinen Platz ein¬
nehmen. Beide waren ganz erfüllt von der Idee der großen, wahren Kunst,
beiden war es mit ihrem ganzen Thun und Denken tiefer, heiliger Ernst, beiden
war es um die ideale Darstellung des Menschen zu thun. Aber sonst wie
verschieden! Bei dem Deutschen eine seltene Kraft und Mannigfaltigkeit schöpfe¬
rischer Phantasie, daher eine große Fähigkeit der Composition, aber eine
Stumpfheit des Formgefühls und eine Unbildung in künstlerischer Beziehung,
die ihn seine Stoffe fast nie zum vollen Leben herausgestalten ließen. Bei
dem Franzosen dagegen ein mühsamer Proceß der Erfindung, eine Art von
Stocken im Fluß des Schaffens, das auch den Bildern das Gepräge der An¬
strengung ausdrückt, aber für die Form ein eminentes, durch und durch gebil¬
detes, zu hoher Meisterschaft entwickeltes Talent. Welche Werke hätte das
Jahrhundert aufzuweisen, wenn beide Kräfte zu einer vereinigt gewesen wären!
Aber fast scheint es, als ob unsere Zeit nicht der Boden sei, aus dem eine
solche ganze Persönlichkeit hervorgehen könnte; nur getrennt und auch dann
nur durch sorgfältige Pflege scheint in ihr ein gewisses Leben erhalten zu kön-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/84>, abgerufen am 30.04.2024.