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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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trachtung zu widmen. Das treibende Motiv unserer Zeit, politische und
nationale Selbständigkeit, dem alle Volkskräfte und energischen Geister sich
zuwenden, scheint in geringem Zusammenhange mit jenen Gedankensystemen
zu stehen, wie sie die erste Hälfte dieses Jahrhunderts in schneller, glänzender
Hintereinandersolge auftauchen und verschwinden sah. eine Reihe leuchtender
Meteore, von denen nur wenigen vergönnt war, sich im Horizonte des Vol¬
kes einzubürgern und ein Theil des Bewußtseins der Nation zu werden.
Was uns gegenwärtig nur noch von Interesse sein dürfte, ist der Umstand,
daß die wenigen Ausläufer jener gewaltigen Denkveriooe. wo innerhalb eines
Zeitraums von 50 Jahren ein ungeheures Materia-l von Ideen zusammen¬
gedrängt ist. fast ganz von den Interessen des politischen Lebens und dem
kühnen Vordringen der exacten Wissenschaften absorbirt und jener Einfluß,
dessen sich die Phisosophie vor kaum drei Decennien erfreute, jetzt fast auf
Null reducirt ist. Die Zeit, wo wegen der Realität oder Nichtrealitcit des
Nichts unter ernsten Männern Duelle stattfanden und bei jedem gebildeten
Manne die Frage, wie weit man in der Ueberwindung von Standpunkten zu
gehen habe, eine wirkliche Lebensfrage war, diese Zeit ist längst vorüber,
eine tiefe, ernste Zeit, deren Gedankengebilde uns jetzt wie die Gespenster der
aus dem Leben geschiedenen Kategorien erscheinen. Es ist daher ein Gebot
der Pietät, das Publicum hin und wieder auf diejenigen Erscheinungen der
heutigen Philosophie hinzuweisen, die in näherem oder weiterem Zusammen¬
hange mit jener Glanzperiode der deutschen Philosophie stehen, um zu erkennen,
Wie weit über diese hinaus ein Fortschritt überhaupt noch möglich sei.

Wir betrachten hier zunächst ein sehr beachtenswerthes Werk von Fr.
Lassalle: Die Philosophie Heraeleitos des Dunkeln von Ephesos.

Vergleichen wir die Art der früheren Geschichtsschreiber der Philosophie,
die Systeme der Philosophen darzustellen, mit der in der Hegelschen Schule
gewöhnlichen Methode, alle Philosopheme bis auf Hegel herab als den Aus
druck einer Reihenfolge aus einander- sich entwickelnder Kategorien anzusehen-
so müssen wir einerseits jenen harmlosen Historikern, wie Tennemann. Hein¬
rich Ritter, Tidemann den Vorzug der größeren Unparteilichkeit und Unbe¬
fangenheit zugestehen, während andrerseits nicht in Abrede gestellt werden
kann, daß die Methode Hegel's den Entwickelungsproceß selbst uns viel klarer
und schärfer hervordrängt. Kommt hierzu noch eine kritische Sichtung und
allseitige Beherrschung des Materials, so sind alle Vorwürfe, die man sonst
historisch-philosophischen Werken aus jener Schule zu machen pflegt, höchstens
auf das Princip selbst zu reduciren. Dieses aber ist so sehr ein Theil Hegel¬
scher Weltbetrachtung, daß jede Discussion über etwaige Schädlichkeit des Prin¬
cips einer Bekämpfung des ganzen Systems gleichkäme.

Nach Schleiermacher's, besonders aber Zeller's gründlicher und fleißiger


trachtung zu widmen. Das treibende Motiv unserer Zeit, politische und
nationale Selbständigkeit, dem alle Volkskräfte und energischen Geister sich
zuwenden, scheint in geringem Zusammenhange mit jenen Gedankensystemen
zu stehen, wie sie die erste Hälfte dieses Jahrhunderts in schneller, glänzender
Hintereinandersolge auftauchen und verschwinden sah. eine Reihe leuchtender
Meteore, von denen nur wenigen vergönnt war, sich im Horizonte des Vol¬
kes einzubürgern und ein Theil des Bewußtseins der Nation zu werden.
Was uns gegenwärtig nur noch von Interesse sein dürfte, ist der Umstand,
daß die wenigen Ausläufer jener gewaltigen Denkveriooe. wo innerhalb eines
Zeitraums von 50 Jahren ein ungeheures Materia-l von Ideen zusammen¬
gedrängt ist. fast ganz von den Interessen des politischen Lebens und dem
kühnen Vordringen der exacten Wissenschaften absorbirt und jener Einfluß,
dessen sich die Phisosophie vor kaum drei Decennien erfreute, jetzt fast auf
Null reducirt ist. Die Zeit, wo wegen der Realität oder Nichtrealitcit des
Nichts unter ernsten Männern Duelle stattfanden und bei jedem gebildeten
Manne die Frage, wie weit man in der Ueberwindung von Standpunkten zu
gehen habe, eine wirkliche Lebensfrage war, diese Zeit ist längst vorüber,
eine tiefe, ernste Zeit, deren Gedankengebilde uns jetzt wie die Gespenster der
aus dem Leben geschiedenen Kategorien erscheinen. Es ist daher ein Gebot
der Pietät, das Publicum hin und wieder auf diejenigen Erscheinungen der
heutigen Philosophie hinzuweisen, die in näherem oder weiterem Zusammen¬
hange mit jener Glanzperiode der deutschen Philosophie stehen, um zu erkennen,
Wie weit über diese hinaus ein Fortschritt überhaupt noch möglich sei.

Wir betrachten hier zunächst ein sehr beachtenswerthes Werk von Fr.
Lassalle: Die Philosophie Heraeleitos des Dunkeln von Ephesos.

Vergleichen wir die Art der früheren Geschichtsschreiber der Philosophie,
die Systeme der Philosophen darzustellen, mit der in der Hegelschen Schule
gewöhnlichen Methode, alle Philosopheme bis auf Hegel herab als den Aus
druck einer Reihenfolge aus einander- sich entwickelnder Kategorien anzusehen-
so müssen wir einerseits jenen harmlosen Historikern, wie Tennemann. Hein¬
rich Ritter, Tidemann den Vorzug der größeren Unparteilichkeit und Unbe¬
fangenheit zugestehen, während andrerseits nicht in Abrede gestellt werden
kann, daß die Methode Hegel's den Entwickelungsproceß selbst uns viel klarer
und schärfer hervordrängt. Kommt hierzu noch eine kritische Sichtung und
allseitige Beherrschung des Materials, so sind alle Vorwürfe, die man sonst
historisch-philosophischen Werken aus jener Schule zu machen pflegt, höchstens
auf das Princip selbst zu reduciren. Dieses aber ist so sehr ein Theil Hegel¬
scher Weltbetrachtung, daß jede Discussion über etwaige Schädlichkeit des Prin¬
cips einer Bekämpfung des ganzen Systems gleichkäme.

Nach Schleiermacher's, besonders aber Zeller's gründlicher und fleißiger


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[0391] trachtung zu widmen. Das treibende Motiv unserer Zeit, politische und nationale Selbständigkeit, dem alle Volkskräfte und energischen Geister sich zuwenden, scheint in geringem Zusammenhange mit jenen Gedankensystemen zu stehen, wie sie die erste Hälfte dieses Jahrhunderts in schneller, glänzender Hintereinandersolge auftauchen und verschwinden sah. eine Reihe leuchtender Meteore, von denen nur wenigen vergönnt war, sich im Horizonte des Vol¬ kes einzubürgern und ein Theil des Bewußtseins der Nation zu werden. Was uns gegenwärtig nur noch von Interesse sein dürfte, ist der Umstand, daß die wenigen Ausläufer jener gewaltigen Denkveriooe. wo innerhalb eines Zeitraums von 50 Jahren ein ungeheures Materia-l von Ideen zusammen¬ gedrängt ist. fast ganz von den Interessen des politischen Lebens und dem kühnen Vordringen der exacten Wissenschaften absorbirt und jener Einfluß, dessen sich die Phisosophie vor kaum drei Decennien erfreute, jetzt fast auf Null reducirt ist. Die Zeit, wo wegen der Realität oder Nichtrealitcit des Nichts unter ernsten Männern Duelle stattfanden und bei jedem gebildeten Manne die Frage, wie weit man in der Ueberwindung von Standpunkten zu gehen habe, eine wirkliche Lebensfrage war, diese Zeit ist längst vorüber, eine tiefe, ernste Zeit, deren Gedankengebilde uns jetzt wie die Gespenster der aus dem Leben geschiedenen Kategorien erscheinen. Es ist daher ein Gebot der Pietät, das Publicum hin und wieder auf diejenigen Erscheinungen der heutigen Philosophie hinzuweisen, die in näherem oder weiterem Zusammen¬ hange mit jener Glanzperiode der deutschen Philosophie stehen, um zu erkennen, Wie weit über diese hinaus ein Fortschritt überhaupt noch möglich sei. Wir betrachten hier zunächst ein sehr beachtenswerthes Werk von Fr. Lassalle: Die Philosophie Heraeleitos des Dunkeln von Ephesos. Vergleichen wir die Art der früheren Geschichtsschreiber der Philosophie, die Systeme der Philosophen darzustellen, mit der in der Hegelschen Schule gewöhnlichen Methode, alle Philosopheme bis auf Hegel herab als den Aus druck einer Reihenfolge aus einander- sich entwickelnder Kategorien anzusehen- so müssen wir einerseits jenen harmlosen Historikern, wie Tennemann. Hein¬ rich Ritter, Tidemann den Vorzug der größeren Unparteilichkeit und Unbe¬ fangenheit zugestehen, während andrerseits nicht in Abrede gestellt werden kann, daß die Methode Hegel's den Entwickelungsproceß selbst uns viel klarer und schärfer hervordrängt. Kommt hierzu noch eine kritische Sichtung und allseitige Beherrschung des Materials, so sind alle Vorwürfe, die man sonst historisch-philosophischen Werken aus jener Schule zu machen pflegt, höchstens auf das Princip selbst zu reduciren. Dieses aber ist so sehr ein Theil Hegel¬ scher Weltbetrachtung, daß jede Discussion über etwaige Schädlichkeit des Prin¬ cips einer Bekämpfung des ganzen Systems gleichkäme. Nach Schleiermacher's, besonders aber Zeller's gründlicher und fleißiger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/391>, abgerufen am 13.05.2024.