Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Zusammenstellung der Bruchstücke des Heraclit (Geschichte der griechischen
Philosophie I. Theil) hätte man kaum geglaubt, daß es einem späteren For¬
scher vergönnt sein würde, noch mehr Material herbeizuschaffen und das vor¬
handene einer noch schärferen Durchsicht zu unterwerfen. Müssen wir auch da¬
gegen Zweifel erheben, daß Heraclit seinen, über Mensch, Welt, Gott u.
s. w. gefaßten Gedankencomplcx sich schon als System mit gesonderten Dis¬
ciplinen, Ontologie, Physik, Psychologie. Ethik und Theologie dachte, wie Herr
Lassalle anzunehmen scheint, so hat dennoch der Verfasser ohne Zweifel sein
Problem vortrefflich gelöst "einen Beitrag zur Entwickelungsgeschichte des welt¬
historischen Gedankens zu liefern -- die eingreifende welthistorische Stellung,
welche Heracleitos in diesem gesetzmäßigen Processe einnimmt, seine Entstehung
wie seine Fortentwickelung in demselben, wenn auch selbst nur in Umrissen,
klar zu legen."

Um dem Leser eine Borstellung von der Menge und der Schürfe der hier
übersichtlich und klar dargelegten Heraclitischen Gedanken zu geben, wollen
wir, der von Herrn Lassalle selbst gemachten Eintheilung folgend, die Haupt,
punkte der Lehre des Ephesiers hervorheben.

Anaximander sagte, das Sein des Endlichen sei nur eine Trübung des
Unendlichen, Heraclit macht aber einen weiteren Fortschritt, wenn er das End¬
liche als steten Untergang, d. h. als Proceß, als Werden des Unendlichen
auffaßt. Ist das Bestehen des Endlichen das Unvollkommene, so ist in
der Entwickelung desselben das Vollkommene, der Frieden zu suchen, daher
Heraclit den Krieg, die Mischung der Gegensätze, den Vater aller Dinge
und den Erzeuger der schönsten Harmonien derselben nennt. (Bd. I.
45--52.) Als sinnliche Bilder dieses Processes werden das Feuer, der Fluß
u. s. w. angesehen, und die Gesammtentwickelung der Welt als fortdauernde
Weltverbrennung aufgefaßt. Aber der Weltbrand ist zugleich eine Welt-
bildung, eine Verjüngung, eine Wandlung der Form der Welt aus dem
Schooße der ewigen Vernunft, welche als das Eine (rc> A) die Gegensätze aus
sich gebiert (Bd. II. 265. Bd. I. 72). Eine nicht geringe Freude zeigt Herr
Lassalle über den von Heraclit gemachten Uebergang von der Metaphysik zur
Naturphilosophie; denn hier zeigt der alte Ephesier sich als Hegelianer vom
reinsten Wasser. Gerade wie Hegel nennt er den Uebergang des ideellen ins
reelle Sein ein Umschlagen (<^o-/?^) in den directen Gegensatz. In der mate¬
riellen Welt ist das Feuer das Element, zu welchem Alles sich schließlich ent¬
wickelt, und aus welchem wieder Alles neu hervorgeht, das Medium aller For¬
men und Gestaltungen. Das sichtbarste und edelste Bild dieses Kreislaufes
ist die täglich ihren Lauf vollendende, in die Fluthen tauchende und neu
verjüngt erscheinende Sonne. Einen ähnlichen Proceß machen auch die Ge¬
stirne, aber in längeren Zeitperioden, durch. Wenn Herr Lassalle Moleschott's


Zusammenstellung der Bruchstücke des Heraclit (Geschichte der griechischen
Philosophie I. Theil) hätte man kaum geglaubt, daß es einem späteren For¬
scher vergönnt sein würde, noch mehr Material herbeizuschaffen und das vor¬
handene einer noch schärferen Durchsicht zu unterwerfen. Müssen wir auch da¬
gegen Zweifel erheben, daß Heraclit seinen, über Mensch, Welt, Gott u.
s. w. gefaßten Gedankencomplcx sich schon als System mit gesonderten Dis¬
ciplinen, Ontologie, Physik, Psychologie. Ethik und Theologie dachte, wie Herr
Lassalle anzunehmen scheint, so hat dennoch der Verfasser ohne Zweifel sein
Problem vortrefflich gelöst „einen Beitrag zur Entwickelungsgeschichte des welt¬
historischen Gedankens zu liefern — die eingreifende welthistorische Stellung,
welche Heracleitos in diesem gesetzmäßigen Processe einnimmt, seine Entstehung
wie seine Fortentwickelung in demselben, wenn auch selbst nur in Umrissen,
klar zu legen."

Um dem Leser eine Borstellung von der Menge und der Schürfe der hier
übersichtlich und klar dargelegten Heraclitischen Gedanken zu geben, wollen
wir, der von Herrn Lassalle selbst gemachten Eintheilung folgend, die Haupt,
punkte der Lehre des Ephesiers hervorheben.

Anaximander sagte, das Sein des Endlichen sei nur eine Trübung des
Unendlichen, Heraclit macht aber einen weiteren Fortschritt, wenn er das End¬
liche als steten Untergang, d. h. als Proceß, als Werden des Unendlichen
auffaßt. Ist das Bestehen des Endlichen das Unvollkommene, so ist in
der Entwickelung desselben das Vollkommene, der Frieden zu suchen, daher
Heraclit den Krieg, die Mischung der Gegensätze, den Vater aller Dinge
und den Erzeuger der schönsten Harmonien derselben nennt. (Bd. I.
45—52.) Als sinnliche Bilder dieses Processes werden das Feuer, der Fluß
u. s. w. angesehen, und die Gesammtentwickelung der Welt als fortdauernde
Weltverbrennung aufgefaßt. Aber der Weltbrand ist zugleich eine Welt-
bildung, eine Verjüngung, eine Wandlung der Form der Welt aus dem
Schooße der ewigen Vernunft, welche als das Eine (rc> A) die Gegensätze aus
sich gebiert (Bd. II. 265. Bd. I. 72). Eine nicht geringe Freude zeigt Herr
Lassalle über den von Heraclit gemachten Uebergang von der Metaphysik zur
Naturphilosophie; denn hier zeigt der alte Ephesier sich als Hegelianer vom
reinsten Wasser. Gerade wie Hegel nennt er den Uebergang des ideellen ins
reelle Sein ein Umschlagen (<^o-/?^) in den directen Gegensatz. In der mate¬
riellen Welt ist das Feuer das Element, zu welchem Alles sich schließlich ent¬
wickelt, und aus welchem wieder Alles neu hervorgeht, das Medium aller For¬
men und Gestaltungen. Das sichtbarste und edelste Bild dieses Kreislaufes
ist die täglich ihren Lauf vollendende, in die Fluthen tauchende und neu
verjüngt erscheinende Sonne. Einen ähnlichen Proceß machen auch die Ge¬
stirne, aber in längeren Zeitperioden, durch. Wenn Herr Lassalle Moleschott's


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0392" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/113634"/>
          <p xml:id="ID_1204" prev="#ID_1203"> Zusammenstellung der Bruchstücke des Heraclit (Geschichte der griechischen<lb/>
Philosophie I. Theil) hätte man kaum geglaubt, daß es einem späteren For¬<lb/>
scher vergönnt sein würde, noch mehr Material herbeizuschaffen und das vor¬<lb/>
handene einer noch schärferen Durchsicht zu unterwerfen. Müssen wir auch da¬<lb/>
gegen Zweifel erheben, daß Heraclit seinen, über Mensch, Welt, Gott u.<lb/>
s. w. gefaßten Gedankencomplcx sich schon als System mit gesonderten Dis¬<lb/>
ciplinen, Ontologie, Physik, Psychologie. Ethik und Theologie dachte, wie Herr<lb/>
Lassalle anzunehmen scheint, so hat dennoch der Verfasser ohne Zweifel sein<lb/>
Problem vortrefflich gelöst &#x201E;einen Beitrag zur Entwickelungsgeschichte des welt¬<lb/>
historischen Gedankens zu liefern &#x2014; die eingreifende welthistorische Stellung,<lb/>
welche Heracleitos in diesem gesetzmäßigen Processe einnimmt, seine Entstehung<lb/>
wie seine Fortentwickelung in demselben, wenn auch selbst nur in Umrissen,<lb/>
klar zu legen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1205"> Um dem Leser eine Borstellung von der Menge und der Schürfe der hier<lb/>
übersichtlich und klar dargelegten Heraclitischen Gedanken zu geben, wollen<lb/>
wir, der von Herrn Lassalle selbst gemachten Eintheilung folgend, die Haupt,<lb/>
punkte der Lehre des Ephesiers hervorheben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1206" next="#ID_1207"> Anaximander sagte, das Sein des Endlichen sei nur eine Trübung des<lb/>
Unendlichen, Heraclit macht aber einen weiteren Fortschritt, wenn er das End¬<lb/>
liche als steten Untergang, d. h. als Proceß, als Werden des Unendlichen<lb/>
auffaßt. Ist das Bestehen des Endlichen das Unvollkommene, so ist in<lb/>
der Entwickelung desselben das Vollkommene, der Frieden zu suchen, daher<lb/>
Heraclit den Krieg, die Mischung der Gegensätze, den Vater aller Dinge<lb/>
und den Erzeuger der schönsten Harmonien derselben nennt. (Bd. I.<lb/>
45&#x2014;52.) Als sinnliche Bilder dieses Processes werden das Feuer, der Fluß<lb/>
u. s. w. angesehen, und die Gesammtentwickelung der Welt als fortdauernde<lb/>
Weltverbrennung aufgefaßt. Aber der Weltbrand ist zugleich eine Welt-<lb/>
bildung, eine Verjüngung, eine Wandlung der Form der Welt aus dem<lb/>
Schooße der ewigen Vernunft, welche als das Eine (rc&gt; A) die Gegensätze aus<lb/>
sich gebiert (Bd. II. 265. Bd. I. 72). Eine nicht geringe Freude zeigt Herr<lb/>
Lassalle über den von Heraclit gemachten Uebergang von der Metaphysik zur<lb/>
Naturphilosophie; denn hier zeigt der alte Ephesier sich als Hegelianer vom<lb/>
reinsten Wasser. Gerade wie Hegel nennt er den Uebergang des ideellen ins<lb/>
reelle Sein ein Umschlagen (&lt;^o-/?^) in den directen Gegensatz. In der mate¬<lb/>
riellen Welt ist das Feuer das Element, zu welchem Alles sich schließlich ent¬<lb/>
wickelt, und aus welchem wieder Alles neu hervorgeht, das Medium aller For¬<lb/>
men und Gestaltungen. Das sichtbarste und edelste Bild dieses Kreislaufes<lb/>
ist die täglich ihren Lauf vollendende, in die Fluthen tauchende und neu<lb/>
verjüngt erscheinende Sonne. Einen ähnlichen Proceß machen auch die Ge¬<lb/>
stirne, aber in längeren Zeitperioden, durch.  Wenn Herr Lassalle Moleschott's</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0392] Zusammenstellung der Bruchstücke des Heraclit (Geschichte der griechischen Philosophie I. Theil) hätte man kaum geglaubt, daß es einem späteren For¬ scher vergönnt sein würde, noch mehr Material herbeizuschaffen und das vor¬ handene einer noch schärferen Durchsicht zu unterwerfen. Müssen wir auch da¬ gegen Zweifel erheben, daß Heraclit seinen, über Mensch, Welt, Gott u. s. w. gefaßten Gedankencomplcx sich schon als System mit gesonderten Dis¬ ciplinen, Ontologie, Physik, Psychologie. Ethik und Theologie dachte, wie Herr Lassalle anzunehmen scheint, so hat dennoch der Verfasser ohne Zweifel sein Problem vortrefflich gelöst „einen Beitrag zur Entwickelungsgeschichte des welt¬ historischen Gedankens zu liefern — die eingreifende welthistorische Stellung, welche Heracleitos in diesem gesetzmäßigen Processe einnimmt, seine Entstehung wie seine Fortentwickelung in demselben, wenn auch selbst nur in Umrissen, klar zu legen." Um dem Leser eine Borstellung von der Menge und der Schürfe der hier übersichtlich und klar dargelegten Heraclitischen Gedanken zu geben, wollen wir, der von Herrn Lassalle selbst gemachten Eintheilung folgend, die Haupt, punkte der Lehre des Ephesiers hervorheben. Anaximander sagte, das Sein des Endlichen sei nur eine Trübung des Unendlichen, Heraclit macht aber einen weiteren Fortschritt, wenn er das End¬ liche als steten Untergang, d. h. als Proceß, als Werden des Unendlichen auffaßt. Ist das Bestehen des Endlichen das Unvollkommene, so ist in der Entwickelung desselben das Vollkommene, der Frieden zu suchen, daher Heraclit den Krieg, die Mischung der Gegensätze, den Vater aller Dinge und den Erzeuger der schönsten Harmonien derselben nennt. (Bd. I. 45—52.) Als sinnliche Bilder dieses Processes werden das Feuer, der Fluß u. s. w. angesehen, und die Gesammtentwickelung der Welt als fortdauernde Weltverbrennung aufgefaßt. Aber der Weltbrand ist zugleich eine Welt- bildung, eine Verjüngung, eine Wandlung der Form der Welt aus dem Schooße der ewigen Vernunft, welche als das Eine (rc> A) die Gegensätze aus sich gebiert (Bd. II. 265. Bd. I. 72). Eine nicht geringe Freude zeigt Herr Lassalle über den von Heraclit gemachten Uebergang von der Metaphysik zur Naturphilosophie; denn hier zeigt der alte Ephesier sich als Hegelianer vom reinsten Wasser. Gerade wie Hegel nennt er den Uebergang des ideellen ins reelle Sein ein Umschlagen (<^o-/?^) in den directen Gegensatz. In der mate¬ riellen Welt ist das Feuer das Element, zu welchem Alles sich schließlich ent¬ wickelt, und aus welchem wieder Alles neu hervorgeht, das Medium aller For¬ men und Gestaltungen. Das sichtbarste und edelste Bild dieses Kreislaufes ist die täglich ihren Lauf vollendende, in die Fluthen tauchende und neu verjüngt erscheinende Sonne. Einen ähnlichen Proceß machen auch die Ge¬ stirne, aber in längeren Zeitperioden, durch. Wenn Herr Lassalle Moleschott's

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/392
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/392>, abgerufen am 27.05.2024.