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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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eine vollere Entwicklung des protestantischen Lehrbegriffs hoffte. Man mußte
entweder vorwärts oder zurück. Nachdem unter Maria eine kurze, aber blutige
katholische Reaction eingetreten war, entschied sich unter Elisabeth die prote¬
stantische Entwicklung Englands.

Diesen Zeitraum, welcher keinem anderen in der englischen Geschichte an
universalhistorischer Wichtigkeit nachsteht, hat Fronde in dem Werke, dessen
Anfang uns vorliegt, zu schildern begonnen. Die ersten beiden Bände reichen
vom Sturze Wolsey's (1529) bis zur Hinrichtung der Anna Boleyn (1536).
Fronde ist der entschiedenste Gegner des Papstthums. Mit allen seinen
Sympathien steht er consequent auf der Seite, welche sich von Rom zu
entfernen und zu befreien sucht. Doch macht ihn diese entschiedene Partci-
stellung nur in seltenen Fällen ungerecht. Fronde billigt das Verfahren, als
dessen Opfer der Bischof Fishcr von Rochester und Sir Thomas More fielen,
als eine politische Nothwendigkeit. Aber das hindert ihn nicht daran, ein
rührendes Bild der letzten Tage, welche Sir Thomas More im Tower ver¬
lebte, zu entwerfen, mit liebevoller Theilnahme die heitere Ruhe zu schildern,
mit welcher er ein Märtyrer für se^re Ueberzeugungen wurde. Wenn irgend¬
wo eine wirkliche Parteilichkeit in der Charakteristik hervortritt, so ist sie zu
Gunsten des Königs Heinrich des Achten. Fronde vergleicht diesen mit dem
Schwarzen Prinzen und mit dem Sieger von Agincourt. Alle Tugenden
werden auf seinen Scheitel gehäuft. Daß er unerschütterlich gegen die An¬
maßungen des Papstthums feststand, hat dem König das Herz Fronde's so
sehr gewonnen, daß dieser für alle seine kleinen Sünden und Schwächen voll¬
kommen blind wird. Bekannt ist die unanständige Eile, mit der Heinrich
der Achte schon am Tage nach Anna Boleyn's Hinrichtung sich wieder mit
Johanna Seymour verheirathete. Fronde sieht darin nur einen Beweis der
Gewissenhaftigkeit, mit welcher Heinrich seine Pflicht, sür einen Thronerben
in England zu sorgen erfüllte.!

Heinrich der Achte war eine reichbegabte, aber zugleich grobsinnliche Na¬
tur. Sein Abfall vom Papstthum wird veranlaßt durch die Schwierigkeiten,
welche der Papst der gewünschten Scheidung von seiner ersten Gemahlin Katharina
von Aragonien entgegensetzte. Aber wie kurzsichtig sind dennoch die, welche
die Kirchenreformation in England von der sündlichen Leidenschaft Heinrich's
für Anna Boleyn herleiten! Die dies thun, begehen damit nur die gewöhn¬
liche Verwechselung der letzten Veranlassung mit der tiefer liegenden Ursache.
Lange vor Heinrich dem Achten war eine reformntorische Bewegung in Eng¬
land vorhanden. Sie beginnt schon im vierzehnten Jahrhundert mit John
Wycliffe. durch dessen Lehre bekanntlich später in Böhmen Huß für seine Re-
formbestrebungen erweckt wurde. An Wycliffe schloß sich die Secte der Lol-
lards, welche, wenn auch im Laufe des fünfzehnten Jahrhunderts zurückgc-


eine vollere Entwicklung des protestantischen Lehrbegriffs hoffte. Man mußte
entweder vorwärts oder zurück. Nachdem unter Maria eine kurze, aber blutige
katholische Reaction eingetreten war, entschied sich unter Elisabeth die prote¬
stantische Entwicklung Englands.

Diesen Zeitraum, welcher keinem anderen in der englischen Geschichte an
universalhistorischer Wichtigkeit nachsteht, hat Fronde in dem Werke, dessen
Anfang uns vorliegt, zu schildern begonnen. Die ersten beiden Bände reichen
vom Sturze Wolsey's (1529) bis zur Hinrichtung der Anna Boleyn (1536).
Fronde ist der entschiedenste Gegner des Papstthums. Mit allen seinen
Sympathien steht er consequent auf der Seite, welche sich von Rom zu
entfernen und zu befreien sucht. Doch macht ihn diese entschiedene Partci-
stellung nur in seltenen Fällen ungerecht. Fronde billigt das Verfahren, als
dessen Opfer der Bischof Fishcr von Rochester und Sir Thomas More fielen,
als eine politische Nothwendigkeit. Aber das hindert ihn nicht daran, ein
rührendes Bild der letzten Tage, welche Sir Thomas More im Tower ver¬
lebte, zu entwerfen, mit liebevoller Theilnahme die heitere Ruhe zu schildern,
mit welcher er ein Märtyrer für se^re Ueberzeugungen wurde. Wenn irgend¬
wo eine wirkliche Parteilichkeit in der Charakteristik hervortritt, so ist sie zu
Gunsten des Königs Heinrich des Achten. Fronde vergleicht diesen mit dem
Schwarzen Prinzen und mit dem Sieger von Agincourt. Alle Tugenden
werden auf seinen Scheitel gehäuft. Daß er unerschütterlich gegen die An¬
maßungen des Papstthums feststand, hat dem König das Herz Fronde's so
sehr gewonnen, daß dieser für alle seine kleinen Sünden und Schwächen voll¬
kommen blind wird. Bekannt ist die unanständige Eile, mit der Heinrich
der Achte schon am Tage nach Anna Boleyn's Hinrichtung sich wieder mit
Johanna Seymour verheirathete. Fronde sieht darin nur einen Beweis der
Gewissenhaftigkeit, mit welcher Heinrich seine Pflicht, sür einen Thronerben
in England zu sorgen erfüllte.!

Heinrich der Achte war eine reichbegabte, aber zugleich grobsinnliche Na¬
tur. Sein Abfall vom Papstthum wird veranlaßt durch die Schwierigkeiten,
welche der Papst der gewünschten Scheidung von seiner ersten Gemahlin Katharina
von Aragonien entgegensetzte. Aber wie kurzsichtig sind dennoch die, welche
die Kirchenreformation in England von der sündlichen Leidenschaft Heinrich's
für Anna Boleyn herleiten! Die dies thun, begehen damit nur die gewöhn¬
liche Verwechselung der letzten Veranlassung mit der tiefer liegenden Ursache.
Lange vor Heinrich dem Achten war eine reformntorische Bewegung in Eng¬
land vorhanden. Sie beginnt schon im vierzehnten Jahrhundert mit John
Wycliffe. durch dessen Lehre bekanntlich später in Böhmen Huß für seine Re-
formbestrebungen erweckt wurde. An Wycliffe schloß sich die Secte der Lol-
lards, welche, wenn auch im Laufe des fünfzehnten Jahrhunderts zurückgc-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/450>, abgerufen am 11.05.2024.