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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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Somit ist Guizots Gesandtschaft wohl eigentlich eine fortdauernde diplo¬
matische Agonie, deren Zuckungen durch alle Phasen hindurch uns Guizot mit
Offenheit darlegt. Er bemüht sich keineswegs, die Irrthümer der französischen
Politik, die er, wie er selbst schon im vierten Bande der Memoiren eingesteht,
in vollem Maße getheilt hat. zu beschönigen oder zu verhüllen. Seine Dar^
Stellung trägt so entschieden das Gepräge der Aufrichtigkeit und ist so vielfach
mit bedeutenden Documenten, unter welchen seine Berichte an das Ministerium,
so wie seine Unterhaltungen mit seinen nicht blos durch diplomatisches Talent,
sondern auch durch die Gunst der Umstände überlegenen Gegnern die erste Stelle
einnehmen, belegt und beglaubigt, daß dieser fünfte Band der Memoiren einen
wichtigen und interessanten Beitrag zur Geschichte jener Periode bildet. Guizot
ist sich der Gefahren der Lage offenbar klarer bewußt, als Thiers, der völlig
von seinen Irrthümern beherrscht ist. Wo sich die Gelegenheit zu einem Ein¬
lenken, freilich nur mit Aufgeben des bis dahin festgehaltenen Standpunktes
bietet, ist Guizot geneigt, dieselbe zu ergreifen; aber es fehlt ihm, dem sonst
so energischen Staatsmann, durchaus an der Entschlossenheit, dem Minister
gegenüber seine Ansicht kräftig zur Geltung zu bringen. Er legt es Thiers
nahe, den richtigen Entschluß zu fassen, aber er scheut sich das entscheidende
Wort auszusprechen;'seine Verantwortung lastet zu schwer auf ihm; daher ist
sein Verhalten völlig correct, d. h. aufs strengste seinen Instruktionen entsprechend.
Stets hat er dem Standpunkte seines Cabinets mit Ausdauer und Zähigkeit
den angemessenen Ausdruck zu geben gesucht, stets die vorliegende Frage mit
Geschick und geistreicher Dialektik discutirt; doch war damit, wie die Dinge
lagen, nicht viel gewonnen. Auf Thiers und die öffentliche Meinung in Frank¬
reich hat er keinen Einfluß geübt, und konnte es nicht, da seine Ausfassung eben¬
so sehr von den alten Vorurtheilen, wie von den in London empfangenen
neuen Eindrücken bestimmt wurde, und er daher nicht fest und klar genug in
seiner Ansicht war, um Irrthümern gegenüber, von denen er selbst sich noch
nicht völlig losgesagt hatte, die wirkliche Lage der Dinge mit Unbefangenheit
zu erwägen und darzulegen.

Die ganze Situation tritt uns in dem sehr ausführlich mitgetheilten ersten
Gespräch, welches Guizot mit Palmerston über die orientalische Frage hatte,
entgegen.

Guizot hebt, dem französischen System gemäß, in diesem Gespräche hervor,
daß der Knotenpunkt der ganzen Frage in Konstantinopel liege; die ägyptische
Frage, obschon die Veranlassung, daß Europa sich mit Konstantinopel zu be¬
schäftigen habe, sei selbst von secundärer Bedeutung, müsse aber, um Konstan¬
tinopel vor jeder Erschütterung zu bewahren, durch ein friedliches Abkommen zwi¬
schen dem Sultan und dem Pascha entschieden werden. Denn jede Anwendung
Von Gewalt im Orient schlage zum Vortheile von Rußland aus. -- Die


Somit ist Guizots Gesandtschaft wohl eigentlich eine fortdauernde diplo¬
matische Agonie, deren Zuckungen durch alle Phasen hindurch uns Guizot mit
Offenheit darlegt. Er bemüht sich keineswegs, die Irrthümer der französischen
Politik, die er, wie er selbst schon im vierten Bande der Memoiren eingesteht,
in vollem Maße getheilt hat. zu beschönigen oder zu verhüllen. Seine Dar^
Stellung trägt so entschieden das Gepräge der Aufrichtigkeit und ist so vielfach
mit bedeutenden Documenten, unter welchen seine Berichte an das Ministerium,
so wie seine Unterhaltungen mit seinen nicht blos durch diplomatisches Talent,
sondern auch durch die Gunst der Umstände überlegenen Gegnern die erste Stelle
einnehmen, belegt und beglaubigt, daß dieser fünfte Band der Memoiren einen
wichtigen und interessanten Beitrag zur Geschichte jener Periode bildet. Guizot
ist sich der Gefahren der Lage offenbar klarer bewußt, als Thiers, der völlig
von seinen Irrthümern beherrscht ist. Wo sich die Gelegenheit zu einem Ein¬
lenken, freilich nur mit Aufgeben des bis dahin festgehaltenen Standpunktes
bietet, ist Guizot geneigt, dieselbe zu ergreifen; aber es fehlt ihm, dem sonst
so energischen Staatsmann, durchaus an der Entschlossenheit, dem Minister
gegenüber seine Ansicht kräftig zur Geltung zu bringen. Er legt es Thiers
nahe, den richtigen Entschluß zu fassen, aber er scheut sich das entscheidende
Wort auszusprechen;'seine Verantwortung lastet zu schwer auf ihm; daher ist
sein Verhalten völlig correct, d. h. aufs strengste seinen Instruktionen entsprechend.
Stets hat er dem Standpunkte seines Cabinets mit Ausdauer und Zähigkeit
den angemessenen Ausdruck zu geben gesucht, stets die vorliegende Frage mit
Geschick und geistreicher Dialektik discutirt; doch war damit, wie die Dinge
lagen, nicht viel gewonnen. Auf Thiers und die öffentliche Meinung in Frank¬
reich hat er keinen Einfluß geübt, und konnte es nicht, da seine Ausfassung eben¬
so sehr von den alten Vorurtheilen, wie von den in London empfangenen
neuen Eindrücken bestimmt wurde, und er daher nicht fest und klar genug in
seiner Ansicht war, um Irrthümern gegenüber, von denen er selbst sich noch
nicht völlig losgesagt hatte, die wirkliche Lage der Dinge mit Unbefangenheit
zu erwägen und darzulegen.

Die ganze Situation tritt uns in dem sehr ausführlich mitgetheilten ersten
Gespräch, welches Guizot mit Palmerston über die orientalische Frage hatte,
entgegen.

Guizot hebt, dem französischen System gemäß, in diesem Gespräche hervor,
daß der Knotenpunkt der ganzen Frage in Konstantinopel liege; die ägyptische
Frage, obschon die Veranlassung, daß Europa sich mit Konstantinopel zu be¬
schäftigen habe, sei selbst von secundärer Bedeutung, müsse aber, um Konstan¬
tinopel vor jeder Erschütterung zu bewahren, durch ein friedliches Abkommen zwi¬
schen dem Sultan und dem Pascha entschieden werden. Denn jede Anwendung
Von Gewalt im Orient schlage zum Vortheile von Rußland aus. — Die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/10>, abgerufen am 21.09.2024.