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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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weitere Schlußfolge aus diesen Prämissen war klar: Weil vorauszusehen ist,
daß Mehemed Ali. nicht freiwillig auf Syrien Verzicht leisten wird, so muß
man ihm dasselbe lassen. Denn ein Kampf, der nur Rußland Vortheil bringen
würde, muß vor allem vermieden werden. -- Lord Palmerston setzt dieser
Argumentation entgegen, daß es vor allem darauf ankomme, die Türkei zu
stärken; das beste Mittel dazu sei, den Pascha zu zwingen, ihr Syrien zurück¬
zugeben. Was Rußland betreffe, so zeige dies guten Willen, im EinVerständ¬
niß mit Europa zu handeln; man müsse diese günstige Stimmung benutzen.
Ein militärisches Einschreiten Rußlands im Namen Europa's hält er nicht
eben für bedenklich, deutet auch auf eine Kooperation Oestreichs hin. An einen
erfolgreichen Widerstand Mehemed Ali's glaubt er nicht; das Hauptargument
der französischen Diplomatie macht daher gar keinen Eindruck auf ihn. Un-
vcrhüllt läßt er sein Mißtrauen gegen die Pläne Frankreichs hervortreten.
Frankreich wolle sich in Mehemed Ali einen Alliirten erziehen und so die
ganze Küste des mittelländischen Meeres von Marokko bis zum Golf von
Alexandrette unter seine Botmäßigkeit oder seinen Einfluß bringen. Dies könne
England nicht anstehen ("Üela n"z xeut vous conveiür). Damit hatte Lord
Palmerston offenbar die Seite der Frage getroffen, die ein EinVerständniß
zwischen den beiden Westmächten unmöglich machte. Der Verdacht eigennütziger
Herrschaftspläne, mochte Guizot ihn auch in das Gebiet der Zukunfts- und
Conjecturalpolitik verweisen, war unvertilgbar, so lange Frankreich auf seinem
Standpunkte beharrte; er heftete sich an jeden Schritt, den Frankreich zu Gun¬
sten des Pascha that.

Guizot fragt im weiteren Verlauf des Gesprächs, ob hinter dem Rücken
Frankreichs die Frage bereits abgeschlossen, ob die gegen Mehemed Ali anzu¬
wendenden Zwangsmittel bereits geregelt seien.' Lord Palmerston verneint dies,
legt, aber Guizot zwei Entwürfe vor, den einen von Palmerston selbst, den
andern, wie Guizot vermuthet, von östreichischer Seite aufgestellt. Beide
enthielten 1. die Verpflichtung der fünf Mächte, die Türkei gegen jeden neuen
Angriff des Pascha und jede Invasion diesseits des Taurus sicher zu stellen;
2. die eventuelle Anordnung der Besetzung Konstantinopels und des Marmor¬
meers; 3. die Angabe der im Falle der Widersetzlichkeit gegen Mehemed Ali
anzuwendenden Coercitivmittel. Der Entwurf Lord Palmersions war ein Trak¬
tat zwischen den fünf Mächten und der Pforte; in dem zweiten Entwürfe ver¬
handelten die fünf Mächte unter einander, und die Pforte nahm einfach ihre
, Vorschläge an.

Nicht erfolgreicher waren Guizots Bemühungen, aus die andern Cabinets-
mitglieder einzuwirken. Von allen Seiten lebhafte Wünsche für das Bestehen
der englisch-französischen Alliance, aber keine Aussicht auf Nachgiebigkeit in der
vorliegenden Frage! Mochten die übrigen Minister das Mißtrauen ihres Col-


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weitere Schlußfolge aus diesen Prämissen war klar: Weil vorauszusehen ist,
daß Mehemed Ali. nicht freiwillig auf Syrien Verzicht leisten wird, so muß
man ihm dasselbe lassen. Denn ein Kampf, der nur Rußland Vortheil bringen
würde, muß vor allem vermieden werden. — Lord Palmerston setzt dieser
Argumentation entgegen, daß es vor allem darauf ankomme, die Türkei zu
stärken; das beste Mittel dazu sei, den Pascha zu zwingen, ihr Syrien zurück¬
zugeben. Was Rußland betreffe, so zeige dies guten Willen, im EinVerständ¬
niß mit Europa zu handeln; man müsse diese günstige Stimmung benutzen.
Ein militärisches Einschreiten Rußlands im Namen Europa's hält er nicht
eben für bedenklich, deutet auch auf eine Kooperation Oestreichs hin. An einen
erfolgreichen Widerstand Mehemed Ali's glaubt er nicht; das Hauptargument
der französischen Diplomatie macht daher gar keinen Eindruck auf ihn. Un-
vcrhüllt läßt er sein Mißtrauen gegen die Pläne Frankreichs hervortreten.
Frankreich wolle sich in Mehemed Ali einen Alliirten erziehen und so die
ganze Küste des mittelländischen Meeres von Marokko bis zum Golf von
Alexandrette unter seine Botmäßigkeit oder seinen Einfluß bringen. Dies könne
England nicht anstehen («Üela n«z xeut vous conveiür). Damit hatte Lord
Palmerston offenbar die Seite der Frage getroffen, die ein EinVerständniß
zwischen den beiden Westmächten unmöglich machte. Der Verdacht eigennütziger
Herrschaftspläne, mochte Guizot ihn auch in das Gebiet der Zukunfts- und
Conjecturalpolitik verweisen, war unvertilgbar, so lange Frankreich auf seinem
Standpunkte beharrte; er heftete sich an jeden Schritt, den Frankreich zu Gun¬
sten des Pascha that.

Guizot fragt im weiteren Verlauf des Gesprächs, ob hinter dem Rücken
Frankreichs die Frage bereits abgeschlossen, ob die gegen Mehemed Ali anzu¬
wendenden Zwangsmittel bereits geregelt seien.' Lord Palmerston verneint dies,
legt, aber Guizot zwei Entwürfe vor, den einen von Palmerston selbst, den
andern, wie Guizot vermuthet, von östreichischer Seite aufgestellt. Beide
enthielten 1. die Verpflichtung der fünf Mächte, die Türkei gegen jeden neuen
Angriff des Pascha und jede Invasion diesseits des Taurus sicher zu stellen;
2. die eventuelle Anordnung der Besetzung Konstantinopels und des Marmor¬
meers; 3. die Angabe der im Falle der Widersetzlichkeit gegen Mehemed Ali
anzuwendenden Coercitivmittel. Der Entwurf Lord Palmersions war ein Trak¬
tat zwischen den fünf Mächten und der Pforte; in dem zweiten Entwürfe ver¬
handelten die fünf Mächte unter einander, und die Pforte nahm einfach ihre
, Vorschläge an.

Nicht erfolgreicher waren Guizots Bemühungen, aus die andern Cabinets-
mitglieder einzuwirken. Von allen Seiten lebhafte Wünsche für das Bestehen
der englisch-französischen Alliance, aber keine Aussicht auf Nachgiebigkeit in der
vorliegenden Frage! Mochten die übrigen Minister das Mißtrauen ihres Col-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/11>, abgerufen am 14.05.2024.